Die Protagonistin dieses Romans, die junge Adelgiza, lebt gemeinsam mit ihren beiden nur wenig älteren Tanten in einer alten Villa in einer brasilianischen Kleinstadt. Sie schildert ihre Kindheitserinnerungen an den bunten Garten, dessen Blumen an die ganze Stadt verkauft werden und an die Jagd auf die riesigen Ameisen, die gefräßig jedes Rosenblatt zu bedrohen scheinen. Nächte voller Geschichten in den Baumwipfeln gehören genauso dazu wie die Fruchtsaft verschmierten Gesichter nach dem Plündern der Mangobäume. Der Garten scheint alles im Überfluss zu haben. Die anfängliche Vertrautheit mit ihrer fast gleichaltrigen Tante und Spielgefährtin Florinda lässt jedoch nach, je älter Adelgiza wird. Die beiden Tanten scheinen ohne sie erwachsen werden zu wollen, sie fühlt sich ausgeschlossen, auch vom Rest der Stadt gemieden. Ihren Trost findet sie bei der Hausangestellten und in den vielen Liebesbriefen, Nachrichten von geheimen Liebschaften, die sie gemeinsam mit den Blumen ausliefert. Gerade volljährig geworden, packt sie die Lust auf Abenteuer und sie begibt sich, nie aus der Kleinstadt herausgekommen, in das entlegene Stadtviertel Vila Morena, von dem nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Adelgiza findet dort Freunde, die – Prostituierte und Trinker – so gar nicht in ihr bisher auf Wahrung von Sitte und Anstand gerichtetes Leben passen. Doch gerade dort, an diesem verrufenen Ort, erfährt sie, dass es in der verschlafenen Stadt tatsächlich Geheimnisse gibt – und sie im Mittelpunkt steht.
Vanessa da Mata ist in Brasilien vor allem als Sängerin und Songschreiberin bekannt. Das merkt man auch ihrem Roman an. Ihre Orts- und Personenbeschreibungen lesen sich sehr anschaulich, man hat das Gefühl, die schwere, feuchte Luft atmen zu können, selbst inmitten eines üppigen Gartens zu stehen, Blumen und Früchte zu riechen, gar zu schmecken. Mit dem Älterwerden Adelgizas fügen sich diesen Beschreibungen Betrachtungen über Sexualität hinzu. Neben üppigen Bäumen werden nun auch die Körper der Menschen im Umfeld der Protagonistin beschrieben. Ihre Tanten erscheinen anhand ihrer körperlichen Attribute noch anschaulicher; der Körper scheint den Charakter zu bestimmen. So erwachsen die beiden Tanten auch zu sein vorgeben, sie definieren sich, gerade dem Teenageralter entwachsen, hauptsächlich über die Zahl ihrer Verehrer, die Anzüglichkeit der Briefe, die sie erhalten. Adelgiza wird davon bewusst ausgeschlossen und sieht sich mit der alles beherrschenden Doppelmoral versteckter Hemmungslosigkeit auf der einen und der strikten, keuschen Moral der Kirche auf der anderen Seite konfrontiert. Je älter sie wird und je mehr eigene Erfahrungen sie – verbotenerweise – macht, desto mehr rückt Körperlichkeit in den Vordergrund, bis sie schließlich ihre Religion wird.
Da Mata schreibt anschaulich, der Leser taucht völlig ein in die Gerüche und die Hitze der Stadt. Nach einigen Seiten wünscht man sich allerdings eine Pause, wünscht sich, auch selbst einmal die Füße in den kühlen Fluss tauchen zu können. Wenn schließlich die üppigen weiblichen Formen der Tanten geschildert werden, kann man nur schwer umhin, immer wieder kritisch denken, dass da Mata hier von Teenagern schreibt. Unterschwellig, manchmal gar offen, bemerkt sie, dass die Mädchen erst wahrgenommen werden, sobald sie ihre Weiblichkeit kokett einzusetzen wissen. Dass sie sich in einem Sommerkleid nicht mehr in alle Gegenden trauen können und dass jede von ihnen Gegenstand des Stadtklatsches ist. Durch all diese Dinge, die sie die Protagonistin am eigenen Leib erfahren lässt, inszeniert da Mata gekonnt die Doppelmoral der Kleinstädter, die kaum einen Kirchgang auslassen, dabei aber gekonnt verschiedene Liebschaften unterhalten. Als Leser hätte man sich die Ausführlichkeit des Anfanges auch am Ende gewünscht. Allzu schnell lüftet sich das Geheimnis um Adelgiza – und das nicht etwa kunstvoll, sondern in einem Schwung durch einen Betrunkenen erzählt. Jener Teil, in dem sie in die Vergangenheit der Kleinstadt eindringt, erscheint nach dem üppigen Anfang nur allzu dürftig. Die Mischung von Realität und Fiktion ist interessant, gelingt aber nicht völlig. Einige Zufälle erscheinen einfach zu passend, einige Details zu unglaubwürdig, so etwa die Aussage, dass Adelgiza ihren Garten zwar jeden Tag besucht, ihn aber noch nie ganz erkundet hat.
Fazit: „Blumentochter“ besticht durch die anschaulichen Beschreibungen einer brasilianischen Kleinstadt und ihrer Einwohner. Die Schwächen der Geschichte können diese aber nicht ausgleichen.
Vanessa da Mata, Blumentochter, List 2015, 304 S., 18,00€.