Der 27-jährige Bird wird Vater. Während seine Frau in den Wehen liegt, resümiert er darüber, dass er sich noch nicht dazu bereit fühlt; der Spitzname, der ihm aus Jugendtagen geblieben ist, deutet darauf hin. Er wird ins Krankenhaus gerufen, die Ärzte teilen ihm mit, sein Kind sei mit einer Gehirnhernie zur Welt gekommen – sein Gehirn quelle aus einem Loch in seiner Schädeldecke hervor. Und tatsächlich sieht Bird das Baby mit einer so großen Beule am Kopf, „dass man meinen könnte, es hätte zwei Köpfe“. Die Ärzte räumen dem Kind geringe Überlebenschancen ein, überhaupt sei es, sollte es denn überleben, nur zu einer „pflanzenhaften Existenz“ fähig. Bird nimmt diese Einschätzung rückhaltlos an, er lässt das Kind in eine Spezialklinik bringen, hat das Gefühl, von den Ärzten und schwangeren Frauen auf den Fluren ob seines entstellten Kindes gedemütigt zu werden. Im Einvernehmen mit der Schwiegermutter beschließt er, das Kind „verschwinden“ zu lassen, noch bevor es seine Frau zu Gesicht bekommt. Er weist an, es mit Zuckerwasser statt Milch zu füttern, dass es schließlich eines Schwächetodes stürbe. Das sei „für alle Beteiligten das Beste“. Die ungewissen Stunden bis zum Tod des Kindes verbringt er bei seiner Freundin Himiko, die schnell seine Geliebte und Komplizin wird. Doch die Entscheidungen über Leben und Tod, die er trifft, lasten schwer auf ihm.
Der Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe (1994 für „Der stumme Schrei“/ „Die Brüder Nedokoro“) schildert hier tatsächlich anhand persönlicher Erfahrungen die Gefühlswelt Birds nach der Geburt seines Kindes. Sein eigener erwachsener Sohn leidet auch an einer Gehirnhernie und bedarf rund um die Uhr der Pflege seiner Eltern.
Der Protagonist Bird entschließt sich schnell, das Kind nicht anzunehmen. Er identifiziert sich nicht mit ihm, nimmt es nicht als sein Kind an, leugnet gar jede Ähnlichkeit mit ihm. Er erkennt den Jungen als etwas Fremdes, Feindliches, das in seine bis dahin unbeschwerte Welt eindringt und seinen großen Traum von einer geplanten Afrika-Reise zunichte macht. Bird erscheint dabei nicht als vorausschauender Planer, dem das Kind einen Strich durch sein geordnetes Leben macht. Vielmehr ist Bird ein chaotischer Charakter, der den Teenager-Jahren noch nicht richtig entwachsen scheint. Er betrank sich einen Monat hindurch, brach sein Studium ab und begreift diese Episode als etwas im Hintergrund Lauerndes, das er nicht begreift, vor dem er sich aber fürchtet. Dabei ist er von Freunden und Bewunderern umgeben, kein Einzelgänger, wenn auch etwas verschroben.
Bird ist durch und durch Egoist, was er bis zum Schluss bleibt und kaum reflektiert. Er hadert mit seinem „Monster-Baby“, denkt aber immer mehr über den Mord nach, den er bei den Ärzten in Auftrag gegeben hat und beschließt, teils aus Misstrauen, teils aus einem merkwürdigen Verantwortungsgefühl heraus, das Kind zu sich zu holen und sich selbst um seinen Tod zu kümmern.
Selten in diesem Buch, das nur einige wenige intensiv durchlebte Tage umfasst, geht es um Schuld. Und doch geht es um nichts anderes, denn sie schwingt unterschwellig mit, bei jedem Satz. Es gibt keine Ächtung der Vorstellung, ein behindertes Kind aus egoistischen Motiven zu töten. Dieses Verhalten wird nicht ein einziges Mal reflektiert. Birds Betrug an seiner Frau, die noch im Wochenbett liegt, während er in die Arme einer anderen flieht, wird nicht ein einziges Mal thematisiert. Sein Egoismus ist neben der Zerrissenheit wegen seines Mordplans das nie explizit dargebotene Hauptthema dieses Werkes von Oe. Nie wird die moralische Frage gestellt, ob die Eltern – ja gar der Vater allein gegen den Willen der Mutter – über den Tod eines behinderten Kindes entscheiden dürfen. Denn in diesem Werk Oes geht es vordergründig nicht um Moral, sondern um die persönliche Entwicklung des Protagonisten, seine gelebte Selbstliebe. Wer das aushält, entdeckt hier ein Tabuthema in originellen Sprachbildern – einen streitbaren Schatz.
Oe, Kenzaburo, Eine persönliche Erfahrung, verschiedene Ausgaben.
Ein Interview mit Oe zu seinem Werk in der Zeitung Die Zeit.
Irgendwie fehlen mir gerade die Worte, weil ich dieses Thema so unsagbar schwierig finde.Und natürlich meldet sich die Moral sofort. Schon aus beruflicher Sicht ist dieses Buch wohl für mich Muss. Danke für den Tipp und die schöne Besprechung.
Vielen Dank für deine Nachricht. In welchem Bereich arbeitest du denn? „Eine persönliche Erfahrung“ ist auf jeden Fall sehr lesenswert, zumal Oe bei seinem Hintergrund ja auch jedes „Recht“ hat – wenn man das so sagen kann -, über das Thema zu schreiben, wie er möchte. Es ist ein sehr eigener, spezieller Zugang zu dem Thema.
Ich bin Heilpädagogin.
Dann wird dir Oes Buch bestimmt noch mehr sagen als mir. Ich habe es übrigens im Café Tasso in Berlin gekauft, einem integrativen Café-Antiquariat. 😉
„Eine persönliche Erfahrung“ war für mich vor gut zwanzig Jahren ein Erweckungserlebnis. Oe wurde zu einem meiner Lieblingsautoren. Ich sollte das Buch mal wieder lesen. Danke für Deinen Artikel!
Hallo Jana,
das Buch ist vom Thema her sicherlich ein harter Brocken. Aber es ergibt sich eine gänzlich neue Perspektive, wenn man es von Krankheit her betrachtet, Krankheit verstanden als Gattungsvorschein, d.h. als ein uns alle verbindendes Moment. Das ist neu. In unserem Block gibt es eine Rubrik „Durch die kranke Brille gelesen“, dort findest Du / Ihr meinen Artikel zu dem Buch, der sich von dieser Perspektive aus dem Geschehen nähert.
Hier ein Auszug (Achtung Spoileralarm, falls Ihr das Buch noch nicht gelesen habt):
„Wir sehen uns beim Lesen gemeinsam mit Bird einer gesellschaftlich verursachten Situation gegenüber, die auf den Einzelnen abgewälzt wird und die ein Einzelner nicht bewältigen kann. Er ist nun der Mann, dem die Entscheidung obliegt, der Familienvater. Diese gesellschaftliche Rolle bleibt ihm aber äußerlich, ist ihm fremd. Er willigt zwar ein, quält sich damit jedoch schwer, sein Leben eskaliert leise aber heftig immer weiter, bis er es am Ende schafft, zu einer für die Menschheit exemplarischen Erkenntnis zu kommen, die die Selektionswirkung der ärztlichen Diagnose außer Kraft setzt: Er erkennt, dass Jeder auf dieser Welt willkommen zu heißen ist, willkommen, so wie er ist, egal wie krank und unansehnlich. Es kommt einzig darauf an, den Entschluss zu fassen, ihn Willkommen zu heißen. Alles Weitere wird sich finden.“
Den ganzen Artikel kannst Du / Ihr hier nachlesen:
https://gattungsvorschein.wordpress.com/2019/01/28/kenzaburo-oe-eine-persoenliche-erfahrung/
Liebe Grüße!