Wochenlang gelähmt und im eigenen Körper eingeschlossen: In „Palladium“ brechen sich die Halluzinationen Bahn.
Der 29-jährige Journalist Boris Razon genießt sein Leben: Er raucht und trinkt gern, lebt mit seiner Freundin zusammen, demnächst wollen sie ein Kind. Sein Job macht ihm Spaß, er ist beschäftigt und misst dem Kribbeln in seinen Fingern daher zunächst nur wenig Bedeutung bei. Doch dem Kribbeln folgen starke Rückenschmerzen, Taubheitsgefühle – einige Tage später ist er vollständig gelähmt. Während Familie und Ärzte um sein Leben bangen, taucht Boris ein in eine Gedankenwelt, die sich irgendwo zwischen Drogenrausch und obskurem Schattentheater bewegt. Zusammengeschmolzene Halbwesen, Straßenkämpfe, Morde, Technopartys auf einer Motorjacht, Hunde in Spitzenröckchen und immer wieder der eigene Tod. Für Boris werden die Wochen der Lähmung zu Jahren der Qual.
Seine Halluzinationen scheinen von gängigen Vorstellungen des Todes inspiriert: ein Totenfluss, der Grund eine Sees, das ausgelagerte, vor den Gesunden verborgene Dahinsiechen. Doch dazu kommen Gewalt, Obszönitäten, sich selbst sieht er gar als Mörder.
„Palladium“, so wird zu Beginn des Buches erklärt, das ist alles, was den Erhalt einer Sache garantiert. Und am Ende schafft es Boris‘ Geist auch, ihn irgendwie zu „erhalten“, auf jeden Fall in unserer Welt nicht sterben zu lassen.
Der Autor Boris Razon verarbeitet in dem Roman die Erlebnisse einer eigenen schweren neurologischen Erkrankung. Der erste Teil des Buches befasst sich mit dem Ausbruch der Krankheit, der zweite und größte Teil mit seiner vollständigen Lähmung und Innenwelt, der dritte dann mit seiner Rückkehr ins Leben, seinem Wiedererleben des eigenen Ichs als Körper und der inneren Verwandlung, die er durch die Krankheit vollzogen hat. Inwieweit der Autor die beschriebenen Halluzinationen selbst erlebt hat, oder was er während der Arbeit an dem Buch hinzu erfand, geht nicht eindeutig aus dem Text hervor. Es ist letztlich auch egal, denn Palladium zeigt, in welche Tiefen der menschliche Geist hinabsteigen kann und was er unternimmt, um den Menschen am Leben zu erhalten, wenn der Körper dazu nicht mehr in der Lage ist.
Razons Erzählweise ist sehr plastisch. Als Leser wird man förmlich gezwungen, sich gemeinsam mit dem Protagonisten dessen dunkelsten Seiten anzusehen. Das ist nicht schön, oft ist es abschreckend, manchmal beängstigend und vulgär. Man wundert sich, was der Geist alles zusammenklauben kann, um daraus eine Geschichte zu drehen, die halbwegs sinnig ist. Mir persönlich haben der erste und der letzte Teil des Buches, die Erkrankung und Genesung, weit besser gefallen als die Schilderung der Halluzinationen, die aber das Herzstück des Werkes ausmacht. Den Einschub der Krankenakten fand ich ungewöhnlich, aber passend, zumal verbunden mit einem Glossar, das die wichtigsten Begriffe erläutert. Manchmal finden sich offene Parallelen zu den medizinischen Zustandsbeschreibungen, je näher der Protagonist seiner Genesung kommt, desto deutlicher wird es. Diese Parallelen herauszulesen gab den eher lose zusammenhängenden Episoden einen roten Faden. Als störend empfunden habe ich die direkte Ansprache des Lesers als „mein Lieber“. Das Stilmittel hat die Abschottung des Protagonisten in seinem „Sarkophag“, seinem eigenen Körper unnötigerweise durchbrochen.
Neben klaren künstlerischen Aspekten – das Werk wurde für den Prix Goncourt nominiert – liest sich Razons Reise in die eigene Innenwelt streckenweise sehr abschreckend. Darauf muss man sich erstmal einlassen. Dass die Geschichte jedoch keine reine Erfindung ist, sondern das Erleben des Autors widerspiegelt, gibt ihr, besonders gegen Ende mit der beigefügten Danksagung, einen berührenden Charakter.
Boris Razon, „Palladium“, aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac, ullstein 2015, ISBN: 9783550080821, 336 S., 21,00€.
Eine hörenswerte Kritik, die tiefer auf den Inhalt des Buches eingeht, findet sich beim SWR.
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