Ganz tief unten habe ich in der Bücherkiste gekramt und dabei fiel mir dieses Jugendbuch von 1996 in die Hände, an das ich noch eine vage Erinnerung hatte. Damals habe ich es unter „beeindruckend“ abgespeichert und diese Bewertung hat sich, auch aus meiner heutigen Perspektive, bestätigt.
Die siebzehnjährige Dagny ist überfordert: Eine alkoholkranke Mutter, ein Vater und eine Schwester, die das nichts anzugehen scheint, Probleme in der Schule und dabei niemanden zum Reden, die beste Freundin ist weggezogen und meldet sich kaum noch. Leise schleicht sich der Gedanke ein, ihrem Leben ein Ende zu setzen.
Die Autorin Ursula Isbel beschreibt in „Ich will nicht mehr“ eindringlich, wie sich verschiedene Probleme vor einer jungen Frau derartig auftürmen, dass sie ohne Hilfe keinen Ausweg mehr sieht. Besonders auffällig ist die sehr detaillierte Beschreibung der Gedankenwelt der Protagonistin, die von Selbst-Reflexion und (teils für ihr Alter zu) reifen Abwägungen geprägt ist. Isbel zeichnet die siebzehnjährige Dagny, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird, als eine überlegte Heldin, deren Handlungen – wie lange Spaziergänge im Park, die Flucht vor Mitmenschen – logisch und nachvollziehbar erscheinen.
Ihr Alter kann die Geschichte allerdings nicht ganz verstecken: Wenn die Figuren längst aus der Mode gekommene Schlagertexte zitieren oder von einer „Rave-Party“ zur nächsten ziehen, muss man doch etwas schmunzeln. Ein weiteres kleines Manko ist, dass zum Ende hin doch alles sehr glatt läuft; immerhin erfolgt der kurze Hinweis, dass dies in ähnlichen Situationen nicht immer der Fall ist.
Zudem kommt das Buch an manchen Stellen unterschwellig pädagogisch daher. Besonders, wenn die Protagonistin – ein kleines bisschen aus dem Zusammenhang gerissen – über die Grausamkeit von Tierversuchen nachdenkt, dann meint man die Autorin mit erhobenem Zeigefinger vor sich zu sehen. Belehrend ist es wohl auch, dass Dagny schließlich die ausgestreckte Hand einer Freundin ergreift und sich vorbildlich an Psychologen und Hilfseinrichtungen wendet. Verwerflich ist das nicht, denn zumindest zum damaligen Zeitpunkt erhielt das Buch die Empfehlung „ab 13 Jahren“ und mit den Themen Alkoholismus, zerrüttete Familie, Depression, Drogen und Essstörungen ist dieses Buch für ein junges Publikum wirklich randvoll mit Problemen.
Trotz der belehrenden Tendenz der Geschichte bin ich auch heute noch beeindruckt davon, wie die Autorin es schafft, viele schwierige Themen nicht beschönigend, sondern realistisch und nachvollziehbar zu beschreiben, also genau den richtigen Ton zu treffen. Läuft euch das Buch einmal auf dem Flohmarkt über den Weg, packt es ruhig ein: es ist eine kurzweilige, aber nicht oberflächliche Lektüre.
Ursula Isbel, „Ich will nicht mehr“, F. Schneider Verlag, 188 S., 1996.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern frohe und besinnliche Weihnachtstage.