In einem Land ohne Namen, einige Monate nach dem blutigen Sturz eines namenlosen Generals. Nichts gibt Autor Dragomán preis, doch weiß der Leser, dass er sich im Rumänien der früher 90er Jahre befindet, vielleicht in Siebenbürgen, denn die Figuren tragen ungarische Namen. Die Menschen dort hadern mit der neuen Ordnung. Besser als die alte ist sie, doch was geschieht mit den Machthabern von damals, wer bestraft die Regimespitzel, die immer noch unter ihnen wohnen? Wohin sind die Toten geschafft worden, die die Staatssicherheit in einem letzten Machtakt ihren Angehörigen entriss?
Was dramatischer nicht sein könnte, besonders angesichts der vielen Umstürze, die andernorts zur selben Zeit friedlich verliefen, wird in „Der Scheiterhaufen“ aus ungewohnter Perspektive erzählt: Die Welt der dreizehnjährigen Emma wandelt sich jäh, sie verliert ihre Eltern bei einem Autounfall und wird von ihrer Großmutter aufgenommen, einer Frau, von deren Existenz sie bislang nichts wusste. Die knochige alte Frau erscheint schon auf den ersten Blick als ungeeignet, sich um das verletzte Mädchen zu kümmern und ihr Halt zu geben, als sie in der neuen Schule prompt gemieden und bedroht wird. Doch Emma weiß sich durchzusetzen und nach und nach gelingt auch eine langsame, zarte Annäherung an die Großmutter.
Die Figuren haben Wiedererkennungswert. Die knöcherne Großmutter, die an eine Märchenhexe erinnert und sich auch so benimmt. Beim Kaffeesatzlesen, beim Formen von Lehmmenschen: Sie versteckt ihren Spuk nicht vor ihrer Enkelin und lässt sie wie selbstverständlich daran teilhaben. Der durch das Haus geisternde tote Großvater erschreckt die junge Emma so auch nicht, vielmehr fügt er sich ein in das Haus, das man sich unweigerlich altersschief vorstellt. Emma selbst unternimmt immer wieder Anstalten, sich der Methoden ihrer Großmutter zu bedienen, etwa, wenn sie sich den Finger ritzt und hofft, mit diesem Blutzoll das Geschehen in ihrem Willen beeinflussen zu können.
Dabei geht es außerhalb des Hauses weniger esoterisch zu: In der Schule wird hart zugeschlagen, die Methoden dort und das Verhalten der Schüler erscheinen als grausam. Doch Emma beißt sich hier durch, behauptet sich gegenüber ihren Mitschülern und wird gefördert: Der Zeichenlehrer erkennt ihr Talent, ebenso der Sportlehrer, der sie im Laufen trainiert, die Bibliothekarin nähert sich ihr als Freundin. Und doch bleibt Emma häufig für sich, ihre Beobachtungen sind detailliert. Hier sieht das zeichnende Auge; ihre Naturverbundenheit lässt sie Freundschaft mit den Ameisen schließen und der Baum, der im Garten des Großmutterhauses steht, fungiert fast als ebenbürtiger Protagonist, der schon lange an Ort und Stelle steht, viel Kummer und Leid mit angesehen hat. So sind auch die Orte des Romans markant, neben dem Garten mit der verbotenen wimmernden Hütte ist es der Wald mit der Fuchsfarm, die Schule, die namenlose Stadt, in deren Straßen schon bald wieder Uniformierte patrouillieren sollen.
Die Übersetzung aus dem Ungarischen ist gelungen, an einigen Stellen wurden Eigenheiten der Sprache übernommen, die sich im Deutschen nicht sofort erschließen, etwa, wenn es um das eine Wort geht, das wichtigste, das zwei Menschen einander sagen können und das im Deutschen doch eigentlich drei Worte sind. Die Sprache Dragománs selbst ist wunderbar lakonisch. Seine Sätze sind schnörkellos, manchmal an Kürze nicht zu unterbieten: Großmutter.
Inhaltlich wird die Zeitgeschichte auf beeindruckende Weise in diesen Roman, der auch Entwicklungsroman ist, eingeflochten: Die Protagonistin ist aufgeweckt, denkt viel und beobachtet noch mehr. Ihr fehlt das Wissen um die Entwicklung des Landes, somit erfährt der Leser nur ausschnittsweise und nur durch ihre Augen, was gewesen ist, was geschieht. Der Blick ist weniger naiv als vielmehr unverstellt. Emma bewertet nicht, sie erzählt, was sie sieht, es bleibt dem Leser überlassen, das Beschriebene näher einzuordnen. So wird nur vage berichtet, wie schmerzhaft die Revolution für jeden einzelnen war, dass jeder Erwachsene irgendeine Stellung dazu bezieht und die Kinder nachplappern, was sie hören. Andeutungsweise erfährt man so, dass der Zeichenlehrer an vorderster Front gegen das Regime kämpfte, Emmas Vater wegen seiner „subversiven“ Bilder in Schwierigkeiten geriet, der Sportlehrer immer noch nach versteckten Massengräbern sucht. Klare Aussagen trifft dann die Großmutter, die mit Emma ihre Erinnerungen daran teilt, wie sie ihre beste Freundin und deren Familie versteckte und über ihr Scheitern verrückt wurde.
„Der Scheiterhaufen“ handelt von der Wahrheit: Was ist sie und wer kennt sie? Kann sie uns befreien? Jetzt sind wir frei und kennen die Wahrheit trotzdem nicht. Werden wir erst wirklich frei, wenn wir sie erzwingen, notfalls mit Gewalt? Dragománs Roman macht sich die Aufarbeitung von Schrecken zum Thema, die nicht geradlinig verläuft, sondern von bestimmten Ereignissen befördert und durch Erinnerung getrübt wird. Und die sehr lange andauern und doch noch nicht abgeschlossen sein kann.
György Dragomán, „Der Scheiterhaufen“ (OT: Máglya, aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer), Suhrkamp 2015, 494 S., 24,95€.
„Der Scheiterhaufen“ wurde auch gelesen und besprochen von:
der buchhändlerin
und – diese Rezension ist fast selbst schon ein Kunstwerk – Andreas Breitenstein in der NZZ
3 Gedanken zu „György Dragomán: Der Scheiterhaufen“