Kateřina Tučková: Das Vermächtnis der Göttinnen

Kateřina Tučková: Das Vermächtnis der GöttinnenŽítková (dt. Schitkowa) ist nicht gerade der Nabel der Welt: Ein einsames Dorf in den Weißen Karpaten an der tschechischen Grenze zu Slowenien, die Älteren häufig Analphabeten, der Selbstgebrannte wird getrunken wie Wasser und dass die Leibeigenschaft abgeschafft wurde, hat man fünfzig Jahre zu spät mitbekommen.

Und gerade dieser unwirtlichen Gegend widmet die Ethnografin Dora Idesovà ihr gesamtes Leben. Sie ist hier aufgewachsen, großgezogen von ihrer schrulligen, immer alten Tante Surmena, einer der letzten Heilerinnen (und manchmal auf Wahrsagerinnen) des Ortes – Göttinnen nennen sie diese Frauen hier. Dora ist als Wissenschaftlerin skeptisch, aber weiß auch um die Besonderheiten, die das Leben in Žítková mit sich bringt. Ihr gesamtes Erwachsenenleben widmet sie den Göttinnen und stößt immer wieder auf ihre eigene Familiengeschichte: Warum wurde ihre Tante verhaftet nur um dann jahrelang in der Psychiatrie festgehalten zu werden und dort zu sterben? Warum erschlug ihr Vater ihre Mutter mit der Axt? Warum wurde sie auf dem Internat bis aufs Blut gequält? Und wer hat ein Interesse daran, die Göttinnen von Žítková in Verruf zu bringen? Dora stößt bei ihren Archivbesuchen weit in die letzten Jahrhunderte vor und erfährt dabei viel über ihre Vorfahrinnen, die als Hexen auf dem Scheiterhaufen starben und über ihre Familie, auf die sowohl Nationalsozialisten als auch Kommunisten immer ein Auge hatten.

Die „merkwürdige Geschichte aus den Weißen Karpaten“ beginnt tatsächlich merkwürdig. Die Protagonistin Dora Idesovà wirkt spröde, irgendwie aus der Zeit gefallen, keine Hobbies, keine Freunde, ab und zu eine lustlose Bekanntschaft – Du lebst ja wie ein Geist. Auch ihr Heimatdorf in den Weißen Karpaten ist alles andere als der Nabel der Welt. Und hier soll man einen spannenden Roman ansiedeln? – Ja, auf jeden Fall. Ein paar Seiten braucht man, um sich in Protagonistin und Montagetechnik einzufinden, doch dann beginnt man mitzufiebern. Wer ist hier mit wem verwandt und was fanden sowohl Nationalsozialisten als auch Kommunisten an den alten Frauen, die in ihren ärmlichen Hütten Glieder einrenkten und Kräutertränke brauten? Beim Lesen schlägt man sich unweigerlich auf die Seite der alten Heilerinnen, das macht die Perspektive. Doch im Rückblick ist bemerkenswert, dass das Buch genau das nicht macht. Waren sie Heilerinnen oder Scharlatane? Vielleicht etwas von beidem? Oder muss vielmehr jede Frau für sich betrachtet werden? Genossen sie die Aufmerksamkeit der Nationalsozialisten? Wären sie ebenso bekannt, wenn diese nicht begonnen hätten, ihre Geschichten aufzuschreiben? Während das eine Regime sie protegierte, versuchte das andere sie auszulöschen.

Schön ist, dass die tschechischen Namen der Orte und Personen auch in der deutschen Übersetzung beibehalten und dort, wo es der geschichtliche Verlauf erfordert, eingedeutscht wurden. Es ist nur eine Kleinigkeit, aber so hat man als Leser den Eindruck, diesem fremden Winkel ein Stückchen näher zu kommen. Manchmal wird jedoch auch zwischen deutschen und tschechischen Namen hin und her gesprungen, sodass man glatt verpassen kann, wenn es sich in der Beschreibung um ein und denselben Ort handelt. Eine Karte der Weißen Karpaten wäre sehr hilfreich gewesen. So ist es wirklich erhellend, wenn man sich im Internet Karten der Gegend anschaut, um ein Gefühl für die Entfernungen zu bekommen. Doras Stammbaum abzudrucken war im Gegensatz dazu unerlässlich, denn während die Protagonistin sich schnell merkt, mit wem sie wie verwandt sein muss, kommt man als Leser manchmal kaum hinterher.

Was man bereits beim Anblick des bis ins 17. Jahrhundert zurückreichenden Stammbaums ahnt, wird beim Lesen schnell zur Gewissheit: Die Autorin Tučková arbeitet für einen Roman außergewöhnlich akkurat und mit viel Liebe zum Detail. Schon während man die Hauptfigur Dora bei ihren ersten Recherchen in die tschechischen Archive begleitet, beginnt man sich zu fragen, wo hier die Grenze zwischen Realität und Fiktion verläuft, welche Dokumente sich so oder so ähnlich tatsächlich finden und welche der Figuren wohl tatsächlich Kräuter in den Wäldern gesucht haben. Als Leser freut man sich daher aufrichtig über den Epilog, in dem die Autorin Klarheit darüber schafft, wie sie bei ihrer Recherche vorgegangen ist und wie viel Fantasie in ihrem Roman steckt. Hier wird die Brücke von den ersten bekannten Göttinnen in die Jetztzeit geschlagen. Beginnt man dann, einige der Namen und Begriffe durch die Suchmaschinen laufen zu lassen, ist man erstaunt, wie viele historische Personen die Autorin in ihre Handlung eingeflochten hat.

Fazit: Kateřina Tučková gelingt es, Realität und Fiktion derart gekonnt mit einander zu vermischen, dass man als Leser gleich selbst ins nächste Archiv losziehen möchte, um mehr über die Göttinnen der Weißen Karpaten herauszufinden.

 

Kateřina Tučková, Das Vermächtnis der Göttinnen, aus dem Tschechischen von Eva Profousová, DVA 2015.

Tipp-BlaseEuropäische, bsd. tschechische Geschichte; Nationalsozialismus, bsd. Himmler, Hexenkartothek

 

Weitere Meinungen finden sich bei

Aig an taigh.

Bücherfüllhorn

Commigratio

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Verwandte Beiträge

Beginne damit, deinen Suchbegriff oben einzugeben und drücke Enter für die Suche. Drücke ESC, um abzubrechen.

Zurück nach oben