Misha Anouk: Goodbye, Jehova!

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Misha Anouk wurde in einem Zeitungsartikel der letzten Wochen erwähnt. Worum es ging, weiß ich gar nicht mehr, aber seine Lebensgeschichte hat mich sofort interessiert. Aussteiger-Bücher sind spannend. Geschlossene, teils undurchsichtige Gemeinschaften haben ja auch immer etwas Faszinierendes. Überrascht hat mich, auf welche Weise Anouk seinen Lesern diese Glaubensgemeinschaft, der er selbst 20 Jahre lang angehört hat, näher bringt.

Misha Anouk wurde in die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas hineingeboren. In vielen Bundesländern mittlerweile als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt, in einigen noch nicht, ist der Name dieser Gemeinschaft wohl jedem ein Begriff. Jeder verbindet irgendeine Vorstellung von den Mitgliedern dieses Zusammenschlusses: Gläubige, freundliche, adrett und bieder gekleidete Damen, Herren und Kinder, die häufig mit der Zeitschrift „Wachturm“ in der Hand in der Fußgängerzone stehen.

Der Autor spielt mit diesem Bild. Er spricht den Leser direkt an und beschreibt ihm, wie ein typischer Weg in die Gemeinschaft aussieht. Er schildert Zusammenkünfte und Deutschlandkongresse, Langeweile genauso wie den Spaß, den er beim Fußballspiel mit seinen Freunden innerhalb der Gruppe hatte. Er erklärt, wie es sich für ein Kind anfühlt, weder Weihnachten noch Geburtstag feiern zu dürfen. Als Sohn zweier Missionare, der Vater ein Oberhaupt der Gruppe, hätte Anouk nach eigener Aussage einen glänzenden Weg innerhalb der Gemeinschaft vor sich gehabt. Eine „Karriere“ gewissermaßen. Doch er fühlte sich eingeengt, die vielen Stunden „Predigtdienst“ von Haustür zu Haustür, alles genau protokolliert, die vielen Verhaltensregeln und die ständige Angst vor Harmageddon, dem Weltuntergang, stressen ihn und sind einige der Gründe, warum er es schließlich auf seinen Ausschluss aus der Gemeinschaft anlegt. Auch seinen darauf folgenden persönlichen Absturz verheimlicht er nicht.

Fantastisch sind die akribisch recherchierten Textstellen aus Publikationen der Wachturm-Gesellschaft, mit denen Anouk seine Aussagen belegt. Er zeigt die psychologischen Methoden auf, mit denen die in den USA ansässige Wachturm-Gesellschaft ihre Mitglieder „auf Linie“ hält – durch ihre stark vereinfachende Verkürzung kommen diese Passagen leider ein wenig wie Küchenpsychologie daher – und zählt viele Publikationen auf, die von ehemaligen Mitgliedern verfasst wurden, bei den Zeugen Jehovas selbst aber verteufelt und daher nicht gelesen werden. Man gewinnt beim Lesen den Eindruck, dass er seinen ehemaligen Glaubensbrüdern und -schwestern nicht mit Hass oder Ablehnung gegenübersteht. Er schreibt respektvoll von ihnen. Kritik übt er hauptsächlich am organisatorischen Überbau, der sich seiner Ansicht nach in den Jahrzehnten seiner Lehre in evidente Widersprüche verstrickt hat, „freiwillige“ Spenden erzwingt und mehr Energie darauf verwendet, gemachte Fehler zu vertuschen, als möglicherweise seine Autorität in Frage gestellt zu sehen.

Anouks Buch eröffnet einen breiten Blick auf das Leben bei den Zeugen Jehovas, ist unterhaltsam, dabei respektvoll gegenüber Mitgliedern und zeigt doch gnadenlos die Fehlbarkeit der Organisation auf.

Misha Anouk, Goodbye, Jehova! Wie ich die bekannteste Sekte der Welt verließ; rororo 2014, 544 S., 9,99€.

Tipp-Blase    Zeugen Jehovas, Bibel

5 Gedanken zu „Misha Anouk: Goodbye, Jehova!

  1. Guten Morgen,
    das Buch habe ich auch gelesen und fand es auch wirklich nicht schlecht. Ich bin mir nur nicht sicher, wieviel ich davon glauben kann und soll. Ich habe eine sehr gute Freundin, die seit mehreren Jahren (so knapp 10 Jahren) bei den Zeugen Jehovas ist und sie hat sich fast gar nicht verändert. Gut, sie geht zweimal die Woche in die Versammlung und macht ihren Predigtdienst, aber unsere Freundschaft hat sich nicht verändert. Sie versucht nicht, mich zu bekehren und sie macht auch nach wie vor einen sehr glücklichen Eindruck. Religion war vorher kein Gesprächsthema bei uns und ist es (außer ich frage) auch heute nicht. Ich war mit auf ihrer Taufe und fand es ganz spannend (habe allerdings auch gemerkt, dass es schon sehr strikte Zeugen gibt, aber die gibt es bei den Katholiken auch). Von Zwang und Druck merke ich da aber sehr wenig, zumal die Schwester ihres Mannes ausgetreten ist und die weiterhin normalen Umgang pflegen. Von daher bin ich bei Aussteigerberichten inzwischen immer ein bisschen vorsichtig. Zumindest kann man es wohl nicht auf alle Zeugen Jehovas übertragen. Ich glaube, dass man in allen Religionen Menschen findet, die es etwas lockerer sehen und Menschen, die sehr strikt leben.
    Für mich selbst wäre diese Religion nichts, aber jedem das Seine.
    LG
    Yvonne

    1. Liebe Yvonne, vielen Dank für deinen Kommentar und deinen Eindruck. Ich hatte zu Schulzeiten selbst eine Freundin, die Zeugin Jehovas war (und noch ist) und bei uns war es auch so, dass Religion kein Thema war, außer, wenn explizit danach gefragt wurde. Sie hielt sich an die Regeln ihrer Glaubensgemeinschaft (kein Geburtstagsfest, keine Weihnachtsfeier etc.), machte aber nie einen verbohrten Eindruck. Diese Freundschaft war auch einer der Gründe für mich, dieses Buch zu lesen.
      Ich denke, letzten Endes kommt es immer darauf an, wie der Einzelne seine Überzeugungen handhabt, wobei ich grundsätzlich die Gefahr der Abschottung bei kleinen Glaubensgemeinschaften und/oder sog. ,,Sekten“ naturgemäß als größer einstufen würde als bei ,,Mainstream-“ (d. h. Welt-)Religionen. Ich habe beim Lesen verschiedener Aussteigerbücher auch immer wieder den Eindruck gewonnen, dass dem Autor/der Autorin sein früherer Glaube/seine frühere Gemeinschaft nie gleichgültig geworden ist. Sonst würde er/sie vielleicht auch gar nicht den Schritt zur Verfassung eines Manuskriptes und einer Veröffentlichung wagen. Diese Menschen sind immer noch bewegt, vielleicht auch verärgert oder betroffen von dem/über das, was sie dort erlebt haben.
      Viele Grüße
      Jana

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