„Es heißt, dass von den insgesamt etwa 100.000 aus ihrer Heimat geflohenen Litauern etwa 58.000 Personen in DP [Displaced Persons] Camps auf deutschem Boden gelebt haben. Unter ihnen befand sich der größte Teil der politischen und kulturellen Elite des Landes, die den Krieg überlebt hatten und den sowjetischen Massendeportation entgangen waren. Da ab 1944 in Litauen selbst eine grausame stalinistische Sowjetisierung im Gange war, kann gesagt werden, dass etwa von 1945 bis 1949 Westdeutschland Standort und Schauplatz der litauischen Kultur (und also auch der litauischen Literatur) gewesen ist.“[1]
Deutschland als zeitweiser Mittelpunkt der litauischen Literatur? Es war genau obiger Ausschnitt einer Anmerkung zu dem vor kurzem erstmals auf Deutsch erschienenen Roman „Das weiße Leintuch“ von Antanas Škėma, der mich überrascht hat. Wie umtriebig und aktiv litauische Künstler schon in den ersten Jahren nach ihrer Flucht waren, ist erstaunlich. Trotz Vertreibung und unter kargen Bedingungen, inmitten eines fremden Landes (Deutschland), zumeist in der amerikanischen Besatzungszone, wurden Bücher geschrieben, Verlage und Schulen gegründet, es wurde an deutschen Universitäten studiert. Während sich einige Schriftsteller auf baltische Mythologie, Bauernromantik und Nationalpathos besannen und sich für eine Befreiung Litauens stark machten,[2] wandten sich andere bald schon der neuen Heimat Amerika zu. Dieser Konflikt prägte die litauische Literatur bis zum Ende der Sowjetunion.[3] Es war eine bemerkenswerte Situation: Literaten ohne Leserschaft, denn in der Heimat konnten sie nicht publizieren, außerhalb Litauens war die Sprache wenig verbreitet. Es galt daher tatsächlich, das Überleben der litauische Literatur durch die eigene Arbeit zu sichern.[4]
Zu den bekanntesten Exil-Künstlern gehört wohl Jonas Mekas, der als Schriftsteller, Kurator und Regisseur aktiv ist und seine Erinnerungen an nationalsozialistische Zwangsarbeit und seine Zeit in Displaced Person Camps in Wiesbaden und Kassel u.a. in seinem gerade neu aufgelegten Roman „I had nowhere to go“ verarbeitet.[5] Von 1946–1948 studierte er in Mainz. Auch andere litauische Intellektuelle besuchten die gerade wieder eröffneten deutschen Universitäten. So z.B. der Dichter und Übersetzer Alfonsas Nyka-Niliūnas, der in Freiburg und Tübingen lernte und französische, englische und deutsche Literatur studierte.[6] Der spätere Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz, der in polnischer Sprache schrieb, wurde ebenfalls im heutigen Litauen geboren. Viele seiner Werke sind, anders als die vieler anderer litauischer Schriftsteller, auch auf Deutsch erhältlich.[7]
Insgesamt sind die Informationen zu den litauischen displaced persons in deutscher Sprache spärlich gesät. Litauische Kulturvereine nehmen auf diese Zeit Bezug,[8] auch die eine oder andere Privathomepage zur eigenen Familiengeschichte findet sich in englischer Sprache.[9] Deutsche Publikationen zum Thema der „dipukai“, wie sich die displaced persons selbst nannten und nennen, würden aber bestimmt auch den einen oder anderen interessierten Leser finden. In diesem Sinne – auf zum Stand Litauens auf der Leipziger Buchmesse.
[1] Anmerkung zu Škėma, Antanas, Das weiße Leintuch, Berlin 2017, S. 249.
[2] So z.B. Bernardas Brazdzionis, vgl. Veser, Reinhard, Exil und Mutterland, zwei Welten, in: FAZ vom 09.10.2002, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/literatur-aus-litauen-exil-und-mutterland-zwei-welten- 180602.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2, Aufruf vom 11.03.17.
[3] Vgl. Anmerkung zu Škėma, Antanas, Das weiße Leintuch, Berlin 2017, S. 249.
[4] Dies hatte sich u.a. die Zeitschrift „Literaturos lankai“ zur Aufgabe gemacht, vgl. Veser, Reinhard, Exil und Mutterland, zwei Welten, in: FAZ vom 09.10.2002.
[5] S. http://jonasmekas.com/books/index.php?book=I_had_nowhere_to_go, Aufruf vom 11.03.17.
[6] S. leider ohne weitere Quellenangaben https://de.wikipedia.org/wiki/Alfonsas_Nyka-Nili%C5%ABnas#Einzelnachweise .
[7] Bei den Verlagen Suhrkamp, Kiepenheuer & Witsch und Hanser.
[8] S. South Boston Lithuanian Club, http://www.sblca.org/index.php/lithuanian-restaurant-bar/2-uncategorised/24-history, s. auch EU Citizen Portal: http://ec.europa.eu/citizenship/sharing-experiences/active-european- remembrance/project1_en.htm
[9] Eine gut aufbereitete ist z.B. diese hier: https://balzekasmuseum.org/displacedpersons/paltarokas-valaitis.Die Seiten der DP Camps selbst scheinen leider selten gewartet zu werden, s. http://www.dpcamps.org/.
Und hier ist noch der link zur litauischen Lyrik!
https://literaturleuchtet.wordpress.com/2017/03/21/poesie-als-sprache-der-freiheit-lyrik-aus-litauen/
Nach all dem lesen und recherchieren hätte ich große Lust nach Litauen zu reisen …
Viele Grüße!
Ich auch – die Sümpfe und das Meer… ach. Das Litauen-Netz entspinnt sich hier langsam 😉 Viele Grüße zurück!