Vladimir Nabokov: Lolita (1955)

Lolita. Ein Name, zur Bezeichnung geworden für lasziv dreinblickende junge Mädchen, ständig bereit, ältere Männer zu verführen. Immer hatte ich „Léon – Der Profi“ vor Augen und bin zudem ein wenig vor diesem Roman zurückgeschreckt. Schlussendlich siegte doch die Neugier und bescherte mir ein außergewöhnliches Leseerlebnis, hin und hergerissen zwischen Empörung in Anbetracht der Handlung und Bewunderung für die einmalig kluge und fesselnde Sprache Nabokovs.

Lolita

Der Mittvierziger Humbert Humbert (allein der Name: grandios!) berichtet aus dem Gefängnis heraus über die Tat, die ihm vorgeworfen wird: Der lästerliche jahrelange Roadtrip  mit der zu Beginn zwölfjährigen Dolores (Lolita), die Mutter tot, er als ihr Stiefvater übriggeblieben – Tennisunterricht und sexuelle Dienste inklusive. Sie führen eine Art von Beziehung, in der es stellenweise so scheint, als dominiere das junge Mädchen den Erwachsenen vollends, der ihr, unterwürfig, jeden Wunsch von den Augen abliest. Dass Lolita die Flucht gelingt, verbessert die ohnehin angeschlagene psychische Gesundheit Humberts nicht und er macht sich zu einem blutigen Rachefeldzug gegen Lolitas „Entführer“ auf.

Spannend sind so viele Dinge an diesem Buch, dass eine kurze Aufzählung sie nur andeutungsweise umfassen kann: Die Namen der Figuren sind sehr ausgesucht gewählt, Nabokov gibt hierzu Erläuterungen im Nachwort. Oft fragt man sich, wer gerade eine Äußerung getätigt hat: War es Humbert im Zuge seiner apologetischen Schilderungen, dabei psychisch angeschlagen, oft angetrunken und daher ein unzuverlässiger Erzähler? Der fiktive Herausgeber der Aufzeichnungen oder der Autor Nabokov selbst? Wird hier aus europäischer Sicht Kritik an den Vereinigten Staaten geübt? Oder andersrum? Wo finden sich Querverbindungen in andere Sprachen? Wortspiele aus dem Englischen, Russischen, Deutschen und Französischen, die wohl nur der versteht, der all diese Sprachen beherrscht. Wie gelingt es dem Autor, die Geschichte zwischen den beiden unsympathischen Figuren derart fesselnd zu gestalten und dabei immer den einen oder anderen Witz einzustreuen? Was ist am Ende „Wahrheit“, was Wahn?

Schon beim Lesen musste ich immer wieder nach Interpretationshilfen suchen und einzelne Begriffe nachschlagen. Ausgestattet mit den hilfreichen Anmerkungen meiner Freundin, die „Lolita“ in der Uni gelesen hatte, konnte ich mit viele – wenn auch bei weitem nicht alle – Anspielungen verstehen; es zeigten sich bemerkenswerte Querverbindungen, die immer und immer wieder Nabokovs umfassende Bildung offenbarten. Einschübe aus dem Französischen, manchmal Deutschen wurden unübersetzt übernommen, dem Leser wird hier einiges abverlangt.
Wenn auch nicht der Protagonist, so wurde mir der Autor sympathisch: Wunderbare Wortschöpfungen, schier unendliche Wortspiele mit dem Namen Humbert Humbert und ein Wortschatz, der in heutigen englischsprachigen Werken seinesgleichen sucht und nur schwerlich findet. Erst mit der Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten vor Augen ging mir auf, wie vielschichtig dieses Werk ist ­­– was zunächst hinter der krassen Thematik zurücktrat. Im englischen Original empfand ich „Lolita“ auch sprachlich als schwierige Lektüre, was die Bewunderung für den russischsprachigen Nabokov, der dieses Werk als seines seiner ersten in englischer Sprache verfasste, nur steigert.

Die Annäherung Humberts an Lolita in der ersten Hälfte des Romans war deutlich spannender zu lesen als der lange Roadtrip durch die USA und die Suche nach dem „Entführer“ des Mädchens. Da zogen sich einige Beschreibungen für meinen Geschmack zu sehr in die Länge und ich wartete darauf, dass Humbert endlich ins Gefängnis wandert. Mit dieser kleinen Einschränkung war Nabokovs „Lolita“ ein ausnehmend bereichernder und tiefgründiger Roman.

Vladimir Nabokov, Lolita, verschiedene Ausgaben.

Weitere (und im Tenor völlig unterschiedliche) Besprechungen finden sich u. a. bei Nettebuecherkiste, Büchereulen und muromez.

10 Gedanken zu „Vladimir Nabokov: Lolita (1955)

  1. Gerade, dass man irgendwann anfängt Lolita als die Schuldige anzusehen, hat mich an diesem Roman total fasziniert.

    Aber ja, der zweite Teil des Romans war wirklich was anstrengend.

    Sehr schöne Rezension 🙂

  2. „der dieses Werk als sein erstes in englischer Sprache verfasste“
    Leider stimmt das nicht ganz – „The Real Life of Sebastian Knight“ war Nabokovs erstes englischsprachiges Werk, „Lolita“ erst das dritte. „Sebastian Knight“ ist übrigens sehr zu empfehlen und viel besser als „Lolita“. Auch „Lushins Verteidigung“ ist einfach nur grandios. ?

    1. Vielen Dank für den Hinweis, auf diese Information bin ich nicht gestoßen. Wird nachrecherchiert und dann berichtigt.
      Die Kurzbeschreibung zu „Lushins Verteidigung“ liest sich auf jeden Fall schon mal interessant. 😉

  3. Gerne. 🙂 Leider wird Nabokov häufig auf Lolita reduziert, da dies sein bekanntestes Werk und jenes ist, das ihm zum Durchbruch verholfen hat. Dabei sind die meisten älteren und auch die späteren keineswegs schlechter (meines Erachtens sogar besser).

    1. Das behalte ich so im Hinterkopf! Ich habe tatsächlich auch nur Nabokovs bekanntestes Werk auf meine Klassiker-Leseliste gesetzt, aber sie ist (leider) sowieso nicht so stark mit russischen Autoren besetzt. Aber Tipps halte ich natürlich trotzdem fest!

  4. Falls Lolita noch im Kopf nachflimmern sollte oder falls eine gelegentliche Wiederlektüre ansteht (ich selbst habs grad nach zehn Jahren noch einmal gelesen und es kam mir vor wie ein neues Buch), sind als Entschlüsselungshilfen sehr schön das Buch des deutschen Nabokovherausgebers Dieter E. Zimmer: Wirbelsturm Lolita. Und auch die Lolitakapitel in der Biographie von Brian Boyd, in denen man überhaupt sehen kann, was für ein globales Aufregungspotential Bücher damals entfalten konnten.

    1. Danke für die Tipps. Ich hatte mich damals schon bei einer Freundin, die ein Seminar zum Buch hatte, etwas informiert, aber „Lolita“ ist dann neben den anderen Büchern wieder etwas in Vergessenheit geraten. Ich bin nicht abgeneigt, das Buch noch einmal zu lesen; vielleicht dann auf Deutsch, denn ich bin mir sicher, dass mir im Original das eine oder andere Detail entgangen ist. Da helfen obige Werke bestimmt enorm.

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