Dystopien liegen derzeit ja besonders im Jugendbuchbereich voll im Trend. Daher jetzt einmal ein Gegenentwurf und die Beschreibung einer (vermeintlich) perfekten Welt: Thomas Morus‘ Mutter aller Utopien aus dem 16. Jahrhundert.
Morus berichtet von einem fiktiven Gespräch, das er mit dem umfassend gebildeten Reisenden Raphael führt. Dieser hat mehrere Jahre auf einer Insel verbracht, die in seinen Augen den perfekten Staat darstelle: Utopia. Seinen Bericht, der weitestgehend ohne Zwischenfragen seiner Zuhörer auskommt, untergliedert er in die Bereiche Hauptstadt von Utopia, Staatsämter, Kunst und Handwerk, die Bürger im Verkehr miteinander, Reisen in Utopia, Sklaven, Krieg und religiöse Anschauungen.
Die Utopier leben auf einer selbst geschaffenen Insel in identisch angelegten Städten mit klar verteilten Aufgaben. Sie sind ein bescheidenes Volk, regiert von einem Primus inter Pares. Ihre Kleidung ist einfach und für jeden Bewohner gleich; Gold sehen sie als Tand an, mit dem sie ihre Sklaven (meist Kriegsgefangene und Verbrecher) behängen und Kriege finanzieren. Faulheit und Rumtreiberei werden aufs Schärfste verurteilt und geächtet, dadurch müssen alle Bewohner aber auch weniger arbeiten. Ihre so gewonnene Freizeit verbringen die Utopier damit, sich zu bilden und gesellig in großen Gemeinschaftshäusern beisammen zu sein. Gemeinsinn und Tüchtigkeit sind die Haupttugenden der Bewohner; Gesundheit gilt als Voraussetzung für Glück.
Beim Lesen gewinnt man den Eindruck, Morus habe einen deutlichen Gegenentwurf zum England seiner Zeit schaffen wollen. Dabei lässt er seinen Erzähler Raphael die Missstände klar benennen:
„Wenn ich also meinen Blick auf noch so blühende Staaten in unserer Zeit richte, so sehe ich, Gott verzeih mir, nichts als eine einzige Verschwörung der Reichen, die unter dem Aushängeschild des Begriffes ‚Staat‘ einzig und allein ihren Vorteil suchen“ (S. 131).
Bemerkenswert ist, dass der Jurist und Administrator Morus die geringe Gesetzesdichte seines utopischen Staates ebenso preist, wie er als überzeugter Katholik, der 1535 auf dem Schafott endete und in der katholischen Kirche als Heiliger verehrt wird – überlieferter Weise aber ebenso gesetzesgemäß Protestanten verfolgte – Religionsfreiheit hochhält:
„[…] ein Gebot der ältesten utopischen Gesetzeseinrichtungen ist, daß niemand wegen seiner Religion einen Schaden erleiden dürfe.“ (S. 118)
Besonders bei Beschreibung der utopischen Freizeitgestaltung wird Morus‘ humanistisches Menschenbild deutlich: Mit Vernunft und Wissbegier ausgestattet, machen die Utopier sich, kaum dass sie Sichel und Pflug ruhen lassen, freiwillig auf zum Studium in die Bibliotheken. Daneben erscheint Morus in vielerlei Hinsicht ganz seiner Zeit verhaftet: Sein Frauenbild ist ausdrücklich konservativ: Auf Utopia herrscht ein strenges Patriarchat; Frauen sind arbeitsam, gebärfreudig, bescheiden, gehorsam und ungeschminkt. Außerdem sieht er bei aller Religionsfreiheit den Glauben an den einen Gott als Ideal, das sich auf Dauer durchsetzen wird, an und hält Sklaverei ganz selbstverständlich für zulässig.
Uns, die wir auf 500 Jahre mehr Gesellschaftsgeschichte zurückschauen können als Morus zu seiner Zeit, erscheint die allumfassende soziale Kontrolle und romantisch-idealisierte kommunistische Sklavenhaltergesellschaft Utopias gepaart mit einem rassistisch anmutenden Überlegenheitsgefühl seiner Bewohner alles andere als erstrebenswert. Die Mutter aller Utopien erreicht heute genau ihr Gegenteil, sie wirkt abschreckend. Nichtsdestotrotz fasziniert Morus‘ Versuch, eine perfekte Gesellschaft zu kreieren immer noch. Der Ansatz wirkt ungleich anspruchsvoller als jener vieler Dystopien, die lediglich einen einzelnen Missstand unsere Zeit herausgreifen und diesen zuspitzen. Trotz seines Alters ist „Utopia“ kurzweilig, lehrreich und sehr lesenswert.
Thomas Morus, Utopia, verschiedene Übersetzungen und Ausgaben. Online ist der vollständige Text hier abrufbar.
Weitere Besprechungen zum Text gibt es u. a. bei silvae und notizhefte.
Deine Besprechung macht mir einmal mehr bewußt, dass die utopische Gesellschaft, wie Morus sie sich vorstellte, zwar nicht umsetzbar (und so auch nicht unbedingt erstrebenswert) ist, aber wie sehr sich doch die Verhältnisse auch 500 Jahre später noch gleichen, die solche utopischen Träumereien herausfordern – dein Zitat mit der einzigen Verschwörung der Reichen ist gut gewählt!
Danke für deine Nachricht! Einige Sätze kann man tatsächlich eins zu eins ins Heute übertragen – gerade der ,,Staat als Selbstbedienungsladen“ ist leider immer noch viel zu aktuell. Aber ich finde, man merkt, dass Morus einige romantisch-sozialistisch Vorstellungen hatte, die er mit unserem Wissen heute vielleicht anders formulieren würde. Viele Grüße!
Als ich Utopia gelesen habe, dachte ich auch nur „Ist ja alles schön und gut, aber ist DAS wirklich erstrebenswert?“ Alles, was er beschrieb, klang überhaupt nicht nach Freiheit und einer Utopie, die man anstreben will. Ich jedenfalls würde in seiner utopischen Gesellschaft sicherlich nicht leben wollen. Diese Paradoxie fand ich doch ziemlich spannend!
LG Katharina
#KBiS17
Danke für deinen Kommentar!
Ja, ich hatte auch das Gefühl, dass Morus Verbesserungen für jene Bereiche vorschlägt, die damals akut problematisch waren und heute eher in den Hintergrund getreten sind wie die Verschwendungssucht des Adels oder die Faulheit von Bediensteten. Unser Verständnis von einem lebenswerten freiheitlichen Umfeld hat sich seitdem wirklich etwas gewandelt.
LG Jana
„Romantisch idealisierte kommunistische Sklavenhaltergesellschaft…“ Mit Begriffen aus späteren Jahrhunderten lässt sich Thomas More eher nicht fassen, denke ich. More stellte sein humanistisches Weltbild dar, das ist richtig. Er schöpft aus seinen christlichen Anschauungen, ja. Ein Vergleich mit kommunistischen Verhältnissen halte ich für nicht treffend.