Lukas Bärfuss: Hagard (2017)

Bärfuss_HagardObwohl hochgelobt in diesem Jahr, wurde ich mit „Hagard“ (französisch für „verstört, verängstigt“) des Schweizer Autors Lukas Bärfuss nicht warm: Die Idee einer Flucht aus dem Alltag toll, der Erzählton unsympathisch herablassend.

Philip, ein aus der Form geratener Mittvierziger, verkauft Lebensabendimmobilien in Ferienregionen an Senioren. Als er in einer Stadt, die Zürich sein könnte, von einem Geschäftskontakt versetzt wird, fällen ihm zufällig die Schuhe einer jungen Frau ins Auge. Aus einem Impuls heraus verfolgt er sie: durch die Stadt, in die Vorstadt, bis zu ihrem Haus und am nächsten Tag zu ihrer Arbeitsstelle. Ohne ihr Gesicht zu sehen, ohne zu wissen, warum. Anderthalb Tage einer schier unerklärlichen Besessenheit, die ihn Auto, Schuh und Würde kosten. Was treibt Philip an? Wie lässt sich ein so radikaler Ausstieg aus dem eigenen Alltag erklären? Das sind die Fragen, die Bärfuss in seinem Buch stellt.

Während ich die ersten Seiten noch mit Spannung und einem gewissen Wohlwollen für den sitzen gelassenen Philip verfolgte, empfand ich den Ton des namenlosen Erzählers bald als unsympathisch, dann schlicht als beleidigend herablassend. So etwa, wenn es um die durchaus patent erscheinende Sekretärin Philips geht (beachtlicher Bandwurmsatz!):

„War ihm bewusst geworden, wie sinnlos es war, ein paar zehntausend zu realisieren, die wenige Wochen später verbrannt sein würden […]; verpulvert für seine Angestellte, eine alleinstehende Deutsche aus Bremerhaven, für den Lebensunterhalt einer Frau, die von niemandem erwartet wurde, ausgenommen ein jung gebliebener Gebäudetechniker mit Pferdeschwanz und Cowboystiefeln, der sie freitagsabends mit dem Motorrad von der Arbeit abholte, auf die Jakobshöhe und in das Fischrestaurant beim Seedamm führte, um später, in Veras Studio, das nach einem Potpourri von Birkenblättern und Orangenschalen roch, vor dem Flachbildschirm auf dem Bettsofa, das sie behände in der Zeit ausklappte, in der er sich auf dem Klo die Haare löste und mit Zahnpasta den Mund ausspülte, seinen Lohn für die Schmeicheleien und die übernommene Rechnung zu kassieren: zwei von einer gekühlten Flasche spanischen Schaumweins beduselte Stunden zwischen den Beinen einer kinderlosen Sekretärin auf der falschen Seite der fünfzig.“

Am Ende des Buches behandelt der Autor die Figur Vera etwas empathischer, gerade deshalb ist diese Stelle eine, die ohne erkennbares Ziel bösartig daherkommt. Grundsätzlich wirkt Philip enthusiastisch, zielstrebig und willensstark als er der Frau unbeirrbar von einem Ort zum nächsten folgt. Dass er für seine Umgebung nur Verachtung übrig hat, erklärte sich mir beim Lesen nicht. Deshalb wirken Beschreibungen wie die folgende nicht wie messerscharfe Gesellschaftskritik, sondern schlicht unsympathisch:

„Der Fremdenverkehrsangestelltenverein Bezirk Oberland kommt durch die Tür, fröhlich schwatzend und in zweckmäßiger Garderobe, alle in buntem Fleece. Die eine Hälfte bequem und ohne Spannung, eingeweicht von Betablockern und Benzodiazepinen, mit Glück durch den Winter gekommen. Die andere Hälfte hat sich ertüchtigt, beim Skilaufen oder in Gewaltmärschen mit Stockeinsatz an den Flussufern, ist braungebrannt und rotnasig. Acht Menschen jenseits des Alters, in dem man sich noch Hoffnungen auf Karriere macht.“

Vieles erinnert an einen gelangweilten Hipster, der – weil mit sich selbst nicht im Reinen – seine Zufriedenheit darin sucht, seine Umgebung herabzuwürdigen. Dass sich das durch das gesamte Buch zieht, ist schade und hat mir den Spaß an der faszinierenden Idee, einfach aus einem Impuls heraus in ein fremdes Leben einzutauchen, genommen.

Lukas Bärfuss, Hagard, Wallstein Verlag 2017, 19,90€.

2 Gedanken zu „Lukas Bärfuss: Hagard (2017)

  1. Ich weiß, dass Bärfuß mit seinem Roman nicht rechtzeitig fertig wurde. Er war schon lange vorher angekündigt. In diesem Zusammenhang glaube ich, er hat einfach unter Druck irgendwie zu Ende geschrieben … Schade eigentlich, aber ich kann deinen Missmut verstehen.
    Viele Grüße

  2. Danke für diesen Hinweis! Das ist wirklich schade, gerade das Ende ließ nicht ein klein wenig ratlos zurück. Da hätte ich mir eine tiefer gehende Ausarbeitung, noch ein, zwei Hinweise gewünscht.
    Aber ich empfand auch Beschreibungen in der Mitte der Erzählung wie der „Hocker war so klein als sei er für anorektische Asiatinnen gemacht“ als unpassend. War vielleicht auch einfach nicht mein Humor.
    Viele Grüße.

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