Was ursprünglich als Dissertation geplant war, wird zum Roman: Jonas Lüscher erzählt in „Kraft“ mit geistreichem Witz und skurrilem Humor die Geschichte eines Tübinger Rhetorik-Professors, der im Silicon Valley vor den Trümmern seines Lebens steht.
„Warum alles was ist, gut ist und wie wir es dennoch verbessern können“ – Zu dieser durch und durch optimistischen Weltanschauung soll Kraft als einer von vielen Geisteswissenschaftlern eine Argumentation liefern und dafür von einem reichen Investor eine Million Dollar einstreichen. Nichts leichter als das, denkt sich Kraft und reist für einen Monat ins Silicon Valley, um sich seinem Vortrag zu widmen. Was man mit einer Million nicht alles machen könnte: Sich von seiner Frau und seinen pubertierenden Zwillingen loskaufen, endlich die Unterhaltsschulden für die anderen beiden Kinder loswerden, noch einmal ganz neu anfangen,… Je länger Kraft auf den derzeitigen Zustand der Welt im Allgemeinen und sein bisheriges Leben im Besonderen blickt, merkt er: Eigentlich ist nichts gut, wie es ist. Eigentlich ist alles sogar ziemlich verkorkst.
Nach den ersten drei Seiten, auf denen ich noch mit dem an Einschüben und Bandwurmsätzen reichen Stil des Autors zu kämpfen hatte, hatte Lüscher mich. Was für ein Typ!, denkt man unweigerlich, nachdem man Kraft kennen gelernt hat und nicht weiß, ob man ihn in seiner mit Größenwahn gepaarten Überheblichkeit abstoßend oder bewundernswert finden soll. Dass Lüscher den Armen in häufig selbstverschuldete Nöte bringt, macht eine Entscheidung für Schadenfreude oder Mitleid wahrlich nicht leichter. Alles schreit danach: Ein so großspuriger Schwafler muss doch auf die Nase fallen. Früher oder später. Oder immer wieder. Oder einmal endgültig.
Als Leser begibt man sich auf einen Streifzug durch die letzten dreißig Jahre deutsche Geschichte und bewundert die Verbindungen, die der Autor hier für seinen Protagonisten knüpft. Nebenbei fallen die Namen großer Dichter und Denker so beiläufig, dass man sich selbst wie in einen Vortrag zur europäischen Geistesgeschichte geraten fühlt. Aber das soll nicht abschrecken, ganz im Gegenteil: Lüschers geistreicher Witz, der dem Leser locker zugesteht, nicht alle Anspielungen ohne weiteres verstehen zu können, ist ebenso sympathisch wie die skurrilen Situationen und Figuren, die er erschafft. Einzig das Ende erschien mir zu überspannt, vielleicht habe ich auch einfach den Ernst der Lage verkannt. Ansonsten: Kraft hat mich mit seinem Geschwafel wunderbar niveauvoll unterhalten. Was für ihn bestimmt kein Wunder wäre.
Jonas Lüscher, Kraft, C. H. Beck 2017, 237 S., 19,95€.
Über „Kraft“ haben auch geschrieben:
Frank O. Rudkoffsky von den Buchpreisbloggern
War für mich auch eines der besten Bücher dieses Sommers, weil es den Finger in die Wunde legt, wo’s weh tut, mit seiner Kritik an einer Technodizee, die über Leichen geht.
Das und auch am Wissenschaftsbetrieb. Kraft hat mit seiner Schwafelei beruflich Erfolg; wer schwafelt, gewinnt.
„Kraft“ ist ja einer meiner Tipps für die Shortlist des Buchpreises. Auf meiner eigenen diesjährigen Shortlist wird der Roman aber auf jeden Fall landen.
Ja, ich bin gespannt! Ich habe das Buch vor Erscheinen der Longlist nach einer positiven Besprechung auf einem Blog gelesen und freue mich, dass es nun draufsteht. Von denen Büchern auf der Liste war es auch eines derjenigen, die mich am meisten interessieren.
Ich hatte das Vergnügen, den Autor auf der Leipziger Buchmesse zu treffen und einem ausführlichen Interview mit ihm zu lauschen. Ich hatte sofort das Gefühl, dass dieser Roman für mich geschrieben ist – ich habe Politikwissenschaft studiert, war früher durchaus auch ein Revoluzzer, ich habe für die Theologische Fakultät als HiWi gearbeitet und in meiner Masterarbeit am Rande auch die Theodizee-Frage behandelt. Der Schreibstil hatte mich vom ersten Moment gepackt und ich glaube, ich habe selten so viel gelacht wie bei diesem Roman. Für mich definitiv auch ein Kandidat für die Shortlist und ein Buch, das ich noch unbedingt rezensieren muss!
Danke für deine tolle Besprechung 🙂
Vielen Dank für deinen Kommentar! Da hast du ja genau den richtigen Hintergrund und hast bestimmt auch ,,Insider“-Witze verstanden. Hast du auch wie der Protagonist an langen WG-Abenden über die Welt an sich und die deutsche Politik im Besonderen diskutiert?
Ich kannte viele der Namen wirklich nur ,,vom Vorbeigehen“ und fand es schön, dass Lüscher sie seinem Leser auf Augenhöhe vorsetzt. Dadurch kann man das Buch auch genießen, wenn man fachlich aus einer ganz anderen Richtung kommt. Ich bin gespannt auf deine Besprechung, verlinke sie gern hier, wenn du sie veröffentlichst!
Ich war schon zu Schulzeiten SPD-Mitglied und wir haben tatsächlich an Demos teilgenommen, nachts die Internationale gesungen und in Buchclubs über intellektuelle Literatur debattiert. Ich kann auch bei weitem nicht mit allen Namen im Buch etwas anfangen, aber wie du selbst festgestellt hast, muss man das auch gar nicht, um sich trotzdem zu freuen. Das fand ich gut!