Lize Spit: Und es schmilzt (2017)

Spit_Und es schmilztIrgendwas stimmt hier nicht, denkt der Leser von Lize Spits Debütroman „Und es schmilzt“. Die Seiten fliegen dahin, das Gefühl wird stärker. Am Ende bleibt der Leser verstört und traurig zurück.

Evas Kindheit im kleinen flämischen Dorf Bovenmeer könnte so behütet sein: Tägliche Schwimmausflüge mit Freunden, eigenes Haus mit Garten, das Stück Wurst von der befreundeten Metzgerin über die Theke gereicht. Das alles passiert. Auch. Daneben: Die täglichen, manchmal halb-öffentlichen Trinkgelage der Eltern, vor denen Eva so oft wie möglich aus dem Haus flieht. In Gedanken bei ihrer kleinen Schwester, die sich in ein Netz von Zwangsstörungen und Selbstgeißelungen verstrickt, während ihr Bruder für die Schule lernt, um so schnell wie möglich weg zu kommen. Dann ihre beiden besten und einzigen Freunde, für die Freundschaft bedeutet, mit ihrer Hilfe möglichst viele Klassenkameradinnen begrapschen zu können. Und dann noch Jans Tod. Jan, der einzige Junge, der Eva hübsch fand.

Spannung in dichter Atmosphäre

Die Geschichte, die Spit erzählt, ist nicht originell: Alkoholismus, mangelnde Fürsorge, Teenager außer Kontrolle, ein Umfeld, das zuschaut. Doch die Autorin schafft es, verschiedene Problematiken derart miteinander zu verweben, dass eine Atmosphäre des Unwohlseins entsteht, die den Leser wünschen lässt, schnell nach Bovenmeer zu fahren, um Evas kleine Schwester Tesje in den Arm zu nehmen und dann so schnell wie möglich wieder wegzukommen, um nicht eine Minute als irgend nötig dort verbringen zu müssen.

Vergangene Kindheitsmonate werden mit heutigen Viertelstundenabschnitten verwoben; es sind die Erinnerungen der Protagonistin, die diesen Roman ausmachen. Spit schafft es dabei, den Leser so häppchenweise zu füttern, dass die Spannung auf beiden Zeitebenen aufrechterhalten wird. Wie kam Jan zu Tode? Was soll der Eisblock im Kofferraum? „Ich habe mir für dieses Buch den Arsch abgearbeitet.“, stellt die 28-jährige Autorin Lize Spit fest.[1] Das nimmt man ihr ohne weiteres ab, denn das Buch ist gut durchkomponiert und darauf bedacht, den Kloß im Hals des Lesers beständig wachsen zu lassen. Auch der Titel ist perfekt gewählt: Während Eva sich für den Leser erinnert, schmilzt das Eis, das sie transportiert. Vielleicht auch im übertragenen Sinne, denn erst ganz zum Schluss gelangt der Leser zum Kern der Geschichte, zu ihrer Auflösung.

Grausam und dabei zu langatmig

Häufig war mir Und es schmilzt in seinen Ausführungen zu langatmig, zu oft wurde im Schuppen gesessen und auf das nächste Mädchen gewartet, das sich auszieht. Zu oft auf Anrufe gewartet oder über die Wirkung der zwei übereinander getragenen BHs nachgedacht. Die explizite Schilderung der Grausamkeiten wird kunstvoll ausgekostet und nicht nur einmal habe ich mich bang gefragt, ob wirklich ein Großteil der Jugendlichen in meinem Heimatdorf so wenig Rückgrat besessen und zu solchen Demütigungen und Gewalttätigkeiten im Stande gewesen wäre. Kurz – wer den Glauben ans Gute im Menschen noch nicht völlig verloren hat, dem erscheint es zweifelhaft, vielleicht sogar unglaubwürdig, dass hier gleich eine ganze Dorfgeneration Amok zu laufen scheint.

Gerade die „typischen Teenagerstellen“ – wenn man diese Aneinanderreihung von kleinen und großen Abartigkeiten so bezeichnen will – war für meinen Geschmack zu überzeichnet. Ich hätte mir gewünscht, etwas mehr von den Auswirkungen der Situation auf Evas Geschwister zu hören. Gerade auf ihren Bruder, der immer nur sporadisch vorkam, was damit begründet wurde, dass die Beziehung zwischen den beiden nicht eng gewesen sei. Auch, inwiefern die erwachsene Eva im Alltag noch unter ihren Kindheitserfahrungen leidet, hätte stärker beleuchtet werden können. Und wie sie die vier Jahre nach jenem bedeutungsvollen Sommer 2002 durchgestanden hat. Mehr Reflexion, weniger Effekt.

Fazit

Insgesamt ist Lize Spits Roman durchdacht komponiert und schafft es, die Spannung auf mehreren Zeitebenen aufrecht zu erhalten, ohne Verwirrung zu stiften. Die explizite Schilderung von Grausamkeiten muss man hier als Leser gut abkönnen, ansonsten wird man das Buch vermutlich angewidert zur Seite legen. Der Roman ist atmosphärisch sehr dicht, verliert sich leider aber ab und zu in Nebensächlichkeiten und Wiederholungen und wirkt dadurch langatmig. Ohne Zweifel ein gutes Buch, beim Hype bin ich allerdings nicht dabei.

Lize Spit, Und es schmilzt (OT: Het smelt, aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen), S. Fischer 2017, 512 S., 22€, ISBN: 978-3-10-397282-5.

striche

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Koreander

Ach komm, geh wech!

Sharon.baker liest…

Goldkindchen

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[1] https://www.mairisch.de/2016/02/17/ich-bin-voll-reingegangen-lize-spit-autorin/

11 Gedanken zu „Lize Spit: Und es schmilzt (2017)

  1. Sehr schöne Rezension. Und das Beeindruckendste ist, dass du den „richtigen“ Film dazu rausgesucht hast. Was ich damit meine, kannst du später bei mir lesen. Ich gehe da dezidiert auf die Gemeinsamkeiten von Michael Haneke und Lize Spit ein.

    Herzliche Grüße
    Sascha

    1. Danke, deine finde ich auch sehr gelungen.
      Du hast Recht damit, dass es notwendig ist, auf die expliziten Gewaltdarstellungen hinzuweisen. Das Cover wirkt etwas verharmlosend.
      Großartig, der Bezug zum ,,Weißen Band“. Sonst empfehle ich keine Filme zu Büchern, aber hier drängte es sich förmlich auf. Offenbar nicht nur mir! Ich habe deine Rezension gleich verlinkt.

      Herzliche Grüße
      Jana

  2. Hallo Jana,
    mich hat deine Rezension sehr neugierig gemacht. Weniger wegen des Inhalts, dieses Themenspektrum gehört eher weniger zu dem, was bei mir auf dem Nachttisch liegt. Aber die Art und Weise, wie Lize Spit schreibt, interessiert mich doch sehr. Auch deine verlinkte Rezension „Die Raben“ klingt sehr spannend! Nur wann soll ich die Zeit finden, so viele Seiten zu lesen? 😛 Wie lange hast du gebraucht, um das Buch durchzulesen? Ist es eher zäh oder liest es sich schnell weg?
    Liebe Grüße, Alex

      1. Hallo Alex,

        schön, dass dich die Rezension so gepackt hat, dass du gleich losgezogen bist, um das Buch zu suchen! Ich würde es allerdings nicht als Jugendbuch beschreiben, dafür empfand ich die Zwischentöne als zu leise und die Schilderungen der Gewalt als zu explizit.
        Ich war auch gestern in einer großen Buchhandlung, habe viele Bücher wiedererkannt, zurechtgefunden habe ich mich allerdings nicht. Jeder Kauf wäre ein ,,Coverkauf“ gewesen; die ,,Tipps“, die dort auslagen haben mir auch nicht richtig weitergeholfen. Da greife ich lieber auf die Tipps auf Buchblogs ,,Das könnte dir auch gefallen…“, wie es sie z.B. bei der Buchbloggerin gibt, zurück. Deshalb habe ich jetzt auch begonnen, hin und wieder auf andere Bücher zu verweisen. Ich hoffe, der eine oder andere profitiert davon und es ergeben sich interessante Querverbindungen. Ich hoffe, dein nächster Büchereibesuch ist erfolgreicher!
        Viele Grüße
        Jana

        1. Hallo Jana,
          wir würdest du das Buch dann beschreiben, wenn nicht als Jugendbuch? Ich hab ja durchaus im späteren Verlauf erwähnt, dass es kein richtiges Jugendbuch ist. Ich finde, es ist schwer zu beschreiben. Ich kann das natürlich nur aufgrund der Rezensionen und Ausschnitte bewerten, die ich in der Buchhandlung gelesen habe, aber auf mich wirkt es wie ein Thriller… Das Cover lässt in jedem Fall auch keine passablen Rückschlüsse zu.
          Ja, das mit den Tipps von den Buchhändlern ist auch so eine Sache… Als ich einer Verkäuferin erklärte, dass ich Und es schmilzt wegen der Sprache lesen möchte, meinte sie glatt, die sei nicht besonders und gab mir ein anderes. Das enthielt zwar ein paar Jugendausdrücke wie F+ck oder Scheiße, aber das hatte ich nicht mit „besonderer Sprache“ gemeint…
          Ich finde gut, dass du noch weitere Rezensionen und Bücher dieser Art verlinkt hast. Morgen schau ich mich mal nach dem Rabenbuch um 😉
          Liebe Grüße, Alex

        2. Hallo Alex,
          ich bin mir absolut nicht sicher, wo ich das Buch einordnen soll. Als Thriller würde es vielleicht durchgehen, aber ich denke, der ,,typische“ Thrillerleser würde sich in den ersten zwei Dritteln ziemlich langweilen; dafür baut Spit ihr Szenario zu langsam auf. Als Entwicklungsroman auch nicht, denn eine ,,Entwicklung“ der Protagonistin im Sinne des Wortes sehe ich nicht. Vielleicht als ,,Milieustudie“? Für Äußerungen zu dem Thema bin ich dankbar.
          Oh, Kraftausdrücke in Jugendbüchern kann ich auch nicht so gut ab… Das ist häufig einfach zu klischeehaft. Hast du dir ,,Die Raben“ angeschaut? Ich habe es damals als sehr ruhiges und bedrückendes Buch empfunden.
          Viele Grüße, Jana

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