Heidi Benneckenstein: Ein deutsches Mädchen (2017)

Heidi, die eigentlich Heidrun heißt, hat alles andere als eine „normale“ Jugend. Ferien und lange Wochenenden verbringt sie in den paramilitärischen Kinderzeltlagern der „Heimattreuen Deutschen Jugend“, wo neben Strammstehen und Morgensport auch Rassenkunde auf dem Lehrplan steht. Für Heidi zunächst nicht ungewöhnlich, denn Eltern und Großeltern haben ihr nichts anderes beigebracht. Hineingeboren in eine braune Parallelgesellschaft, fällt ihr der Ausstieg nicht leicht.

Benneckenstein_Ein deutsches Mädchen

Ich habe dieses Buch mit großem Interesse gelesen und fand die Schilderung parallelgesellschaftlicher Strukturen äußerst spannend. Insbesondere die Einblicke in die Zeltlager der mittlerweile verbotenen „Heimattreuen Deutschen Jugend“ sind eine Rarität, da – wie Benneckenstein anmerkt – die Zahl der Aussteiger aus dieser Gruppe gegen Null tendiert. Man muss davon ausgehen, dass die Kinder und Jugendlichen dort ein sehr geschlossenes neonazistisches Weltbild haben, denn wer schickt seine Kinder in konspirative rechtsradikale Indoktrinationszeltlager? Überzeugte Demokraten mit Sicherheit nicht.

Deshalb hätte ich mir aus dieser Zeit viel mehr Informationen gewünscht. Wie genau war der Tagesablauf dort; wie erfolgte die Unterrichtung in nationalsozialistischem Gedankengut? Hatte es keinerlei rechtliche Konsequenzen, etwa für die Eltern, wenn solche Zeltlager von der Polizei aufgelöst wurden? Die Kinder, die sich dort einfanden, wurden in überzeugte rechtsradikale Familien hineingeboren und gelten deshalb innerhalb der Szene als „Elite“, wie die Autorin beschreibt. Deshalb wurde mir bis zum Schluss nicht klar, weshalb Benneckenstein ihre Jugend anschließend bis zu ihrem Ausstieg mit den „Saufnazis“ aus den örtlichen Kameradschaften verbrachte. War das der „normale“, vorgezeichnete Weg auch für ein Kind, dessen Familie rechtes Gedankengut nach Kräften förderte?

Angerissen werden die psychischen Probleme, die Verhaltensauffälligkeiten, die unweigerlich mit der militärisch anmutenden Erziehung der Kinder von Neonazis einher zu gehen scheinen. Doch auch hier haben sich mir mehr Fragen gestellt als beantwortet wurden: Die Mutter hat sich zu einem frühen Zeitpunkt in Benneckensteins Leben von ihrem Vater getrennt. Auch wenn die Eltern das gemeinsame Sorgerecht für die Autorin zugesprochen bekamen, so wusste die Mutter doch, dass ihre Töchter immer noch unter dem verheerenden Einfluss des rechtsradikalen Vaters (und seiner neuen Frau) standen? Empfand die Mutter die militärische Erziehung und das neonazistische Gedankengut nicht als so abstoßend, als dass sie sich weiter um das alleinige Sorgerecht bemüht hätte? Oder bewegte sich alles im Grunde noch im Rahmen des gesetzlich Erlaubten? Oder hatte sie mit den beiden Töchtern, die bei ihr lebten, einfach „genug zu tun“? Was ist mit den Großeltern mütterlicherseits, der Großvater gar Richter – fiel hier nie die Indoktrination der eigenen Enkelinnen auf?

Es ist verständlich, dass die Autorin nicht näher auf diese Themen eingeht, da sie selbst mittlerweile einen guten Kontakt zur Mutter unterhält. Die Beschreibung des Vaters dagegen schien ihr leichter zu fallen. Trotzdem bleibe ich als Leserin unzufrieden zurück, weil mich gerade die Familienstruktur, die eine solche Erziehung ermöglicht, interessiert.
Außerdem habe ich mich gefragt, ob nie mal eine engagierte Lehrerin oder ein engagierter Lehrer auf die Autorin zugegangen ist. Spätestens, als sie ein rechtes Liederbuch mit allen drei Strophen des Deutschlandliedes in die Schule mitbrachte. Sollte es nicht so gewesen sein, wäre es äußerst schmerzlich.

Die Autorin lässt kein gutes Haar an ihrer Vergangenheit: Es gibt keine Lagerfeuerromantik, keine verklärte Kameradschaft. Alkohol, Gewaltexzesse und Menschenverachtung, insbesondere die Verachtung von Frauen in den eigenen Reihen – als das nimmt der rechten Szene jegliche Anziehungskraft. Deshalb ist das Buch wichtig, auch wenn es mich sonst aufgrund seiner erzählerischen Mängel enttäuscht hat.

Heidi Benneckenstein (unter Mitarbeit von Tobias Haberl), „Ein deutsches Mädchen. Mein Leben in einer Neonazi-Familie“, Tropen 2017, 256 S., 16,95€, ISBN: 978-3-608-50375-3.

Zum Buch auf die Verlagsseite


Zum Weiterlesen:

Andere BloggerInnen meinen dazu:

Wissenstipp: Neonazi-Szene in Deutschland, weiterführende Literaturtipps

 

8 Gedanken zu „Heidi Benneckenstein: Ein deutsches Mädchen (2017)

    1. Stimmt, weggucken ist keine Option, zumal viele der von Benneckenstein geschilderten Aktionen auch eindeutig rechtswidrig waren. Falls du an das derzeit vergriffene „Mädelsache! Frauen in der Neonazi-Szene“ rankommst – das scheint (noch) lesenswert(er) zu sein.

  1. Hallo!
    Danke für diese sehr gut ausformulierte Rezension. Als ich die Überschrift und den Klappentext las dachte ich, dass mich das Buch auch auf jeden Fall interessiert. Nach deiner Rezension werde ich es jetzt aber doch eher nicht lesen. Es weist mir dann doch zu viele Mängel auf. Herzlichen Dank! Ich schaue mich mal nach anderen Bücher zu dieser Thematik um.
    LG
    Yvonne
    #litnetzwerk

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Verwandte Beiträge

Beginne damit, deinen Suchbegriff oben einzugeben und drücke Enter für die Suche. Drücke ESC, um abzubrechen.

Zurück nach oben