Richard Flanagan: Begehren (2008/2018)

Richard Flanagan erzählt in „Begehren“ die Geschichte einer dem Menschen innewohnenden zerstörerischen Kraft, die sowohl in England als auch in Australien verheerende Wirkung entfaltet. Dabei fokussiert er sich für meinen Geschmack zu sehr auf seine namhaften männlichen Figuren und lässt ein kleines Waisenkind kaum zu Wort kommen.

Eine Geschichte aus einem gottverlassenen Winkel

Aus britischer Sicht ist Tasmanien 1839 der gottverlassenste Winkel des Empire. Zeit, dass den kriegerischen Einheimischen Zivilisation und Britishness nähergebracht werden. Nachdem sich die Ausrottung der Einheimischen als zu gefährlich – manche Stimmen meinen gar „menschenverachtend“ – herausgestellt hat, sind die Kolonialherren dazu übergegangen, die Einheimischen zu kasernieren und mit Gewalt zu „zivilisieren“. Dass die Tasmanier aufgrund der miserablen Lebensbedingungen, eingeschleppten Krankheiten und ihrer ausweglosen Situation daran zu Grund gehen, kann wohl nur auf deren „schwächliche Konstitution“ zurückgeführt werden. Um zu zeigen, wie sehr die britische Erziehung das Leben bereichert, holen der Gouverneur Sir John Franklin und seine Frau Lady Jane die kleine Waise Mathinna in ihr Heim. Doch das Experiment will nicht so recht gelingen, denn Mathinna sträubt sich gegen die britische Lebensart.

Ein weinerlicher Charles Dickens

Zur gleichen Zeit leidet der Schriftsteller Charles Dickens in England unter seiner lieblosen Ehe. Er kann nicht verstehen, dass seine Frau stets müde und „geistlos“ ist, nachdem sie ein Dutzend Kinder zur Welt gebracht hat. Seine Romane werden immer düsterer und er wandert nächtelang ziellos durch die Londoner Straßen. Um sich aufzuheitern, flüchtet er sich in die Theaterarbeit. Die junge Schauspielerin Ellen kann ihn vortrefflich ablenken, doch sein idealisiertes Bild von Häuslichkeit mit Frau und Kindern lässt ihn zunächst vor einer Affäre zurückschrecken.

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Mathinna im Alter von etwa sieben Jahren (Wasserfarbe, Thomas Bock, 1842)

England und Tasmanien – der Leser legt jedes Mal eine Weltreise zurück, wenn er den parallel laufenden Geschichten folgt. Anfangs kommt es zu Verwirrung – zu viele Namen, die man nicht gleich zuordnen kann, kurze Unklarheit, an welchem Ende der Welt man sich gerade befindet. Dass die eine oder andere Figur im Laufe des Buches wegstirbt oder verschwindet, macht die Sache leichter.

Schwieriger Fokus

Lange Zeit fragt man sich, wovon der Roman „Begehren“ eigentlich handelt. Man begleitet Dickens bei seinem Theaterprojekt „The Frozen Deep“, sieht Mathinna unglücklich heranwachsen und Sir John seinen dicken Bauch tätscheln. Erst am Ende wird klar: Lässt man die Kolonialismuskritik des Autors kurz beiseite, handelt der Roman tatsächlich nur von Begehren. Dickens begehrt die Schauspielerin Ellen; Sir John begehrt Mathinna, die kinderlose Lady Jane begehrt eine Tochter, die sie in Mathinna zu finden versucht.

Die Geschichten der Frauen gehen unter

Schade ist, dass Flanagan fast ausnahmslos das Begehren seiner männlichen Figuren in den Vordergrund rückt. In Mathinnas Kopf erhält der Leser kaum Einblick. In Australien scheint ihre Geschichte bekannt zu sein, sie wurde u. a. durch ein Ballett umgesetzt. Außerdem ist eine tasmanische Stadt nach dem Mädchen benannt. Bei Flanagan ist sie keine aktive Figur, sondern reagiert nur passiv auf ihre häufig wechselnden Lebensumstände. Wie stark Scham und Minderwertigkeitsgefühle ihr anerzogen wurden, deutet das einzige Schriftstück, das von der historischen Person Mathinna erhalten ist, an:

„I am good little girl, I have pen and ink cause I am a good little girl . . . “[1]

Weitere Frauenfiguren wie die Schauspielerin Ellen Tennan, deren Mutter und Charles Dickens Ehefrau kommen nur ganz kurz zu Wort. Der Leser kann nur einmal einen Blick in ihre Gedankenwelt werfen und jedes Mal ist dies für die betreffenden Damen nicht schmeichelhaft, denn jeder ihrer Gedanken bezieht sich fast ausnahmslos auf die männlichen Figuren. Ein Lichtblick in dieser Hinsicht ist da Lady Jane, die resolut und willensstark auftritt, sich jedoch nicht eingestehen kann, dass sie unter ihrer Kinderlosigkeit leidet. Wenn wir Sir John durch ihre Augen betrachten, sehen wir einen unansehnlichen, willensschwachen Charakter, der es einzig zum Gouverneur von Tasmanien gebracht hat, weil sie ihn lenkt.

„Du siehst aus wie ein Volltrottel“, sagte Lady Jane. (S. 177)

Nachdem Sir John auf einer Polarexpedition verschollen ist, macht sie es zu ihrer Lebensaufgabe, das Bild seines fragwürdigen Charakters aufzupolieren. Als über die Gebühr trauernde Witwe kann sie sich ihre gesellschaftliche Unabhängigkeit bewahren. Ihre Trauer über den Verlust Mathinnas gesteht sie sich lange Zeit nicht ein, weil sie sie für gesellschaftlich inakzeptabel hält. Lady Jane ist die einzige Frauenfigur, die Flanagan ausführlich beschreibt. In ihrer Intensität reichen diese Beschreibungen aber nicht annähernd an die seitenlangen Ausführungen der Gefühlswelten Dickens‘ und Sir Johns heran. Wenn man will, kann man „Begehren“ auch als Buch von Männern, die Frauen ins Unglück stürzen, lesen.

Ein Wissenszuwachs

Als sehr gelungen empfand ich dagegen die Kritik an der Kolonisierung Tasmaniens. Darüber hatte ich zuvor noch nie gelesen und beim Nachschlagen des einen oder anderen Ortes erfuhr ich noch viel mehr grausige Details aus jener Zeit. Durch seine eindrücklichen Beschreibungen der Kasernierung der Einheimischen durch mehr oder minder wohlmeinende Geistliche oder selbsternannte Philanthropen wird das Ausmaß der Schäden deutlich, die durch die Kolonialpolitik der Briten in Tasmanien entstanden:

„Ich sagte, wenn es nun einmal keinen anderen Weg gibt, muss man sie ausrotten. Sicherheit für die Weißen war nur zu haben, wenn man ihre schwarzen Feinde vernichtete. Wir haben mehrere Jahre lang eine Kopfprämie bezahlt. Gutes Geld, fünf Pfund pro Kopf.“ (S. 214)

Und kurz darauf:

„Wir sind die Sendboten Gottes, der wissenschaftlichen Vernunft, der Gerechtigkeit.“ (S. 216)

Wäre es nach mir gegangen, hätte Flanagan den Handlungsstrang um Dickens weglassen und stärker auf die tasmanische Geschichte eingehen können.

Erst ganz am Ende nähert er sich nach allen politischen Querelen und Bühnenliebeleien wieder der Figur, nach der auch die 2009 erschienene deutschsprachige Erstausgabe des Romans benannt ist: Mathinna. Sie trägt letztendlich den Schaden davon und ihr Schicksal ist herzzerreißend. Es lässt den Leser mit Wut zurück auf alle, die in Mathinnas Leben herum gepfuscht haben.

Fazit: „Begehren“ ist ein durchwachsener Roman. Die Geschichte um Mathinna ist sehr gelungen, als störend empfand ich dagegen, dass der Fokus übermäßig auf den fast larmoyant vor sich hin stolpernden Figuren Dickens und Sir John lag. Hier hätten die Frauenfiguren die spannendere Geschichte zu erzählen gehabt. Als Empfehlung behalte ich aber Richard Flanagans „Der schmale Pfad durchs Hinterland“ im Hinterkopf.

Richard Flanagan, Begehren (OT: Wanting, aus dem australischen Englisch von Peter Knecht), Piper 2018, 303 S.


[1] McGoogan, Ken. Lady Franklin’s Revenge. HarperCollins, 2005, S. 211-213, zitiert nach https://en.wikipedia.org/wiki/Mathinna_%28Tasmanian%29#cite_note-abchobart-1.

Weitere Meinungen zum Buch:

Buch-Haltung
Musings of a Literary Dilettante’s Blog (auf englisch)

Wenn ihr das Buch auch besprochen habt, lasst gern einen Link da.

9 Gedanken zu „Richard Flanagan: Begehren (2008/2018)

  1. Liebe Jana,
    trotz der Einschränkungen, die du bei der Schilderung der Frauenfiguren, bzw. deren Gedankenwelt machst, bin ich nun sehr neugierig auf diesen Roman..
    super geschriebene Rezension, danke dafür
    Liebe Grüße
    Gabi

    1. Liebe Gabi,
      der Roman lohnt sich auf jeden Fall. Ich lasse gelesene Bücher und die Stichpunkte, die ich mir dazu gemacht habe, häufig ein paar Tage liegen, bevor ich beginne, die Besprechung zu schreiben. Hier war es so, dass ich erst beim Nachdenken über das Buch, ein paar Tage nach dem Lesen, ein Problem mit den Frauenfiguren entwickelte. Trotzdem hat mir der Roman mit dem Tasmanien der Kolonialzeit eine ganz neue Welt erschlossen.
      Viel Spaß dir beim Lesen,
      Jana

  2. Eine wirklich tolle und fundierte Kritik. Den Fokus auf die männlichen Figuren kann man durchaus kritisieren, ich habe mich daran nicht so gestört, weil ich die Fokussierung auf die männlichen Egos historisch ganz stimmig finde, vor allem unter Einbeziehung der grausamen Kolonialgeschichte. Insgesamt wie du schreibst ein guter Roman mit Einschränkungen – und auch interessant zu lesen, wie sich Richard Flanagan weiterentwickelt hat.

  3. Hallo Jana,
    das klingt wirklich nach keiner interessanten Beschreibung von Dickens. Ich muss zugeben, er war bestimmt nicht immer der leichte Zeitgenosse, aber so wie er in dem Buch dargestellt wird, klingt es nicht so ganz nach ihm. Aber dazu kann ich natürlich nur spekulieren. 😉
    Obwohl ich deine Rezension gut finde, würde ich das Buch jetzt nicht lesen wollen.
    Aber danke nochmal, das du mir den Link da gelassen hast.
    Liebe Grüße
    Diana

    1. Liebe Diana,
      ja, Dickens kam – wie der tasmanische Gouverneur auch – als ziemlicher Unsympath daher. Ich glaube, die Eckdaten seines Lebens waren zwar korrekt wiedergegeben, aber Flanagan hat Dickens eher einen zweifelhaften Charakter angedichtet.
      Es gibt noch ein anderes Buch vom Autor, das mich sehr interessiert, es handelt von Burma/Myanmar. Vielleicht lese ich das bei Gelegenheit. Aber zuvor auf jeden Fall was von Dickens. 😉

      Viele Grüße
      Jana

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