Der folgende Beitrag erscheint auch als Gastbeitrag zur Reihe #WomeninSciFi bei Binge Reading and More.
Teri Terry hat sich mir deswegen ins Gedächtnis gebrannt, weil ich ihren Namen wohl zwanzigmal durch die Suchmaschine laufen lassen musste, bis ich Vor- und Nachnamen nicht mehr verwechselt habe. Und auch deshalb, weil sie in ihrer Young-Adult-Dystopie so richtig viel so richtig gut gemacht hat. So gut, dass ich finde, sie hat eine Aufnahme in die Reihe #WomeninSciFi des tollen Blogs Binge Reading and More verdient.
Vielen Dank an Sabine für die Möglichkeit, zur Reihe beisteuern zu dürfen!
Neofaschismus in England
In naher Zukunft: England ist vom Rest der Welt isoliert, ein faschistischer Überwachungsstaat hat sich etabliert (wie auch bei George Orwells „1984“ oder dem Film „V wie Vendetta“). Kyla wurde eines seiner Opfer, sie wurde geslated. Als verurteilte Kriminelle wurden all ihre Erinnerungen durch eine Operation gelöscht; jede Neigung zu aggressivem oder abweichendem Verhalten wurde ausradiert. Nachdem sie in einer Klinik wieder einigermaßen lebenstüchtig gemacht wurde, wird sie einer neuen Familie zugewiesen; möglichst weit weg von ihrem bisherigen Umfeld, an das sie sich nicht mehr erinnert. Erinnern sollte. Denn Kyla erlebt in ihren Träumen immer häufiger Flashbacks, die sie nicht einordnen kann, die aber auf eine grauenvolle Vergangenheit hindeuten. Will sie überhaupt wissen, was passiert ist?
Um nicht erneut den staatlichen Behörden zum Opfer zu fallen – die Todesstrafe wurde wieder eingeführt –, versucht sie so unauffällig wie möglich, ihre Vergangenheit zu rekonstruieren. Dabei macht sie schon bald Bekanntschaft mit einer gut organisierten Widerstandsgruppe und fühlt sich gleich heimisch. War sie früher etwa eine Terroristin?
Terry siedelt ihre Geschichte in einer nicht allzu fernen Zukunft an, die mit dem bevorstehenden Brexit noch einmal glaubhafter wird. Allzu viele typische SciFi-Elemente finden sich nicht, doch sind Wissenschaft und Technik ein kleines Stück weiter als heutzutage: Es ist möglich, bei Jugendlichen präzise Gehirnoperation vorzunehmen, einzelne Erinnerungen zu löschen oder auch den ganzen Menschen clean slate, mit einer weißen Weste, erwachen zu lassen. Einmal geslated folgt eine 24/7-Überwachung bis zum Eintritt in das Erwachsenenalter. Sie wird ganz „klassisch“ durch Observationen und inoffizielle Mitarbeiter in Familien und Schulen, aber auch durch monatliche Pflichtbesuche beim staatlichen Psychiater gewährleistet. Wichtigstes Überwachungs-Gimmick ist das Levo, ein dünnes Armband, das Standort und Erregungszustand misst und das dem Träger bei starken negativen Emotionen wie großer Trauer, Angst oder Wut einen Schlag versetzt, der mindestens zur Bewusstlosigkeit, durchaus aber auch zum Tode führen kann. Das Selbstentfernen des Levos – schon auf die Idee zu kommen, ist strafbar – führt ebenfalls zum Tode.
Nicht Zimperlich und wenig Klischee
Überhaupt geht Terry mit Gewaltdarstellungen nicht allzu zimperlich um und ein ums andere Mal musste ich mir ins Gedächtnis rufen, dass es sich immer noch um ein Jugendbuch handelt. Hier wird geblutet, getötet, vergewaltigt, gefoltert, terrorisiert, abgefackelt, ausgebombt, ins Arbeitslager gesperrt oder einfach verschwinden gelassen. Das alles wirkt dabei nicht übertrieben, vielmehr macht es den Schurkenstaat, der aus England geworden ist, greifbarer. (Irland ist übrigens ein freies Land und nimmt englische Flüchtlinge auf.) Das Worldbuilding ist nicht allzu ausgefeilt – vielfach fühlt man sich an Berichte aus Nordkorea erinnert – zum Verständnis der Geschichte aber völlig ausreichend.
Teri Terrys Trilogie ist für mich besonders gelungen, weil sie so viele Klischees, die immer wieder in Young-Adult-Romanen auftauchen, mühelos umschifft: Wir treffen mit Kyla auf eine Protagonistin, die absolut selbstwirksam agiert. Unter widrigsten Umständen versucht sie, ihre Identität zu rekonstruieren – allein um ihrer selbst willen und entgegen der Angst vor der eigenen Vergangenheit. Sie holt sich dabei Hilfe, wenn sie sie braucht, macht sich aber nicht abhängig.
Terry erschafft dabei eine Protagonistin, die alles andere als eindimensional daherkommt. Das zeigt sich vor allem an den verschiedenen Eigenarten der Figur: Ihre Kyla ist nicht nur eine begnadete Zeichnerin und talentierte Läuferin, sondern beherrscht Überlebenstechniken, bewegt sich gern in der Natur, mag Katzen und hasst mädchenhafte Kleider. Dabei wirkt sie nicht wie ein unnahbarer Roman-Übermensch; wir treffen sie ebenso tagelang weinend in ihr Zimmer eingeschlossen oder mit ihren traumatischen Erinnerungen kämpfend an.
Die Vielseitigkeit der Protagonistin kommt nicht von ungefähr. Die Autorin Teri Terry – die erst acht Romane schreiben musste, bis mit Slated schließlich ihr neunter veröffentlicht wurde – lebte in Frankreich, Kanada, Australien und England und ist selbst viel mehr als „nur“ Schriftstellerin:
„I’ve been a scientist [microbiology], a lawyer, an optometrist; I’ve managed businesses, worked in secondary schools and libraries.”
Hachette Children’s Group – Author Spotlight. Teri Terry chats to Graham Marks*
Ebenso bemerkenswert: Zwar hat das Gros der männlichen Figuren einen Narren an der Protagonistin gefressen (es ist ja immer noch Young Adult), doch gibt Terry ihrer Kyla das Selbstbewusstsein mit, sich auch vom love interest trennen zu können – einfach, weil er ein schlechter Mensch ist. Als bemerkenswert gut entwickelt fand ich außerdem die unaufgeregt eingestreute lesbische Liebesgeschichte, Eheprobleme und eine elterliche Scheidung.
Der Plot ist stellenweise vertrackt und trägt mühelos über drei Bücher (am Ende bricht sogar leichte Hektik bei der Auflösung aus) und es war eine gute Idee, die Trilogie in einem Schwung zu lesen, denn manchmal weiß man nicht, ob Kylas Erinnerungen trügen – oder die eigenen an das Gelesene.
Erste Wahl bei Young-Adult-SciFi
Ich bin kein Fan von SciFi im Young-Adult-Genre und bin es durch diese Reihe auch nicht geworden. Dafür bin ich bei Science Fiction zu sehr begeistert von ausgefeiltem Weltenbau und Querverbindungen zu anderen Werken und zur Wissenschaft; gern dürfen die Geschichten von fremden Planeten und Lebensformen handeln. Aber wenn ich nochmal Lust auf Young-Adult-SciFi habe, dann nehme ich ganz bestimmt wieder ein Buch von Teri Terry in die Hand – die hat mit The Dark Matter nämlich gerade ihre nächste Reihe abgeschlossen.
* Das vollständige Interview mit der Autorin findet sich unter https://www.hachettechildrens.co.uk/assets/hachettechildrensbooks/author%20spotlights/AuthorSpotlight_TTerry.pdf.
Hallo Jana,
die Reihe klingt wirklich gut. Ich habe früher viel YA gelesen, aber mittlerweile tue ich es kaum noch. Mir gehen die ganzen von dir angesprochenen Klischees auf die Nerven, hinzu kommt, dass ich in letzter Zeit zu viele schlecht geschriebene YA Bücher las. Ich bin jedoch trotzdem noch auf der Suche nach guten YA Bücher, da diese sich schnell zwischendurch lesen lassen. Wenn ich viel zu tun habe und etwas leichtes brauche sind YA Bücher genau das Richtige.
Dafür wandert diese Reihe auf meine Leseliste.
Danke für den Tipp.
Elisa
Hallo Elisa,
ich bin nie so richtig an YA herangekommen. Die Twilight-Reihe war noch drin, aber dann habe ich mehrere Reihen nach nur einem Buch beendet, weil ein Klischee ans nächste gereiht wurde. Deshalb freue ich mich, die Reihe von Teri Terry durch Zufall gefunden zu haben, denn wenn es dann doch mal YA sein soll, dann am besten etwas, das sich gut lesen lässt, bei dem man sich aber nicht über Klischees ärgert.
Hast du noch einen Tipp für eine gute YA-Reihe?
Viele Grüße
Jana
Ich bin auf einem ungewöhnlichen Weg zu YA gekommen. Ich bin mit 12 praktisch von der Kinderliteratur direkt zur Erwachsenliteratur gesprungen und habe YA ausgelassen. Erst mit 16 habe ich angefangen YA zu lesen.
Was Tipps angeht. In letzter Zeit hatte ich viele Enttäuschungen und im Sci-Fi bereich fällt mir nichts ein. Falls historische Fantasy auch geht würde ich dir „Grave Mercy“ die Novizin des Todes von Robin LaFevers empfehlen. Spielt in der Bretagne im 15. Jahrhundert und enthält ein bisschen Fantasy und Mythologie. Es gibt in allen 3 Bänden eine Liebesgeschichte, aber die nimmt nur einen kleinen Teil der Handlung ein. Komplett ohne Klischees kommt die Reihe nicht aus, aber sie bietet viele erfrischende Ansätze.
LG
Elisa
Das war bei mir ganz ähnlich, ich weiß noch, wie ich mit 12, 13 auf einem Flohmarkt ,,Das Kapital“ gekauft habe (habe ich immer noch nicht vollständig gelesen) und der Verkäufer mich kritisch anschaute und meinte: ,,Das ist schwierige Lektüre. Wie Shakespeare.“ Den Vergleich von Marx und Shakespeare fand ich damals schon krumm. 😀
Ein schöner Tipp, den schreib ich mir gleich mal auf. Danke!
Viele Grüße
Jana