SchließlichErst folgt ein Roman auf den anderen und schließlich wird der Wissensdurst so groß, dass Sachbücher her müssen. Die erscheinen zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution reichlich, eines umfangreicher als das andere. Ganz ähnlich wie Romane zum Thema Nordkorea bietet sich die Geschichte der Sowjetunion eine Bandbreite von möglichen Herangehensweisen: Soll es unterhaltsam zugehen, werden die Marotten Stalins in den Vordergrund gerückt. Für Comiczeichner bietet sich das natürlich besonders an.
Dagegen sind Erfahrungsberichte aus den sowjetischen Gulags äußerst schmerzlich zu lesen. Schmerzlicher noch als die nüchterne Herangehensweise der Sachbücher, die dafür ungleich mehr Fakten bieten. Fiktive Lebensgeschichten bieten die Freiheit, sich einige dieser Aspekte herauszugreifen. Kurzum, zur Geschichte der Sowjetunion gibt’s derzeit was für jede Stimmung und jeden Geschmack. Dabei greift der Titel „Russisch lesen“ zu kurz, denn spannende Literatur bieten z. B. auch das Baltikum und der Südkaukasus, insbesondere Georgien mit vielen Neuerscheinungen im Rahmen des Gastlandjahres auf der Frankfurter Buchmesse. Eine kleine Auswahl von Werken der letzten zwei Jahre habe ich hier zusammengestellt.
Boris Sawinkow: Das fahle Pferd
Das fahle Pferd wurde bereits 1908 im Pariser Exil geschrieben und erschien 2015 auf Deutsch. Ein Roman um fünf Bombenbauer, die es auf den Generalgouverneur abgesehen haben, klingt vielleicht weit hergeholt. Doch der Autor weiß, wovon er schreibt: Boris Sawinkow wurde nach mehreren erfolgreichen Attentaten verhaftet, floh, schrieb u. a. dieses Buch und starb schließlich beim Sturz aus dem Gefängnisfenster.
Dalia Grinkevičiūtė: Aber der Himmel – grandios
Grinkevičiūtės Romanmanuskript wurde vor einigen Jahren beim Umgraben eines Blumenbeetes gefunden; die Autorin hatte ihre Erinnerungen an ihre Deportation aus Litauen und ihre Zeit in einem sibirischen Gulag vor dem KGB versteckt, der sie kurze Zeit später auch verhaftete. Grinkevičiūtės Erinnerungen sind tief berührend und ein einmaliges Zeugnis über das Innenleben der sowjetischen Arbeitslager.
Reso Tscheischwili: Die Himmelblauen Berge
Ein Autor will eigentlich nur sein Manuskript beim Verlag abgeben. Doch dort beschäftigt man sich weniger mit Literatur als mit allerlei selbstgemachten Problemen. Das 1980 erschienene Werk des georgischen Autors ist ein früher Abgesang Reso Tscheischwili auf die Sowjetunion und beschreibt humorvoll den Wahnwitz des bürokratischen Systems sowie seiner Charaktere.
Antanas Škėma: Das weiße Leintuch
Škėmas Protagonist, der litauische Schriftsteller Antanas Garšva, lebt im New Yorker Exil. Von den Sowjets gefoltert, floh er über Deutschland in die USA, wo er nun als Liftboy arbeitet. Das 1958 erschienene Werk liegt jetzt auf Deutsch mit umfangreichem Anhang vor und zählt zu den einflussreichsten Werken der litauischen Literatur.
Michail Prischwin: Der irdische Kelch
Die Erzählung um die von Hunger, Leid und Aberglauben geprägte russische Landbevölkerung gehört zu den politischen Texten des als strikt apolitisch geltenden Autors Michail Prischwin und konnte zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht werden. Bereits 1919, direkt nach der Oktoberrevolution, verfasst, ist er jetzt erstmals auf Deutsch erschienen.
Jeffrey Archer: Traum des Lebens
Auf der Flucht vor dem KGB muss es schnell gehen. Auf ein Schiff nach Großbritannien oder in die USA? Ein Münzwurf entscheidet über das Leben des Protagonisten. Der Autor Jeffrey Archer hat eine Karriere als britischer Politiker hinter sich und begann schlug die Schriftstellerlaufbahn ein, während er eine Haftstrafe verbüßte. Er ist bekannt für seine Clifton-Saga um den Aufstieg des Arbeiterjungen Harry.
Zur Besprechung bei Kleine Fluchten
Julian Barnes: Der Lärm der Zeit
Wie Künstler sein in der Diktatur? Julian Barnes schreibt die fiktive Lebensgeschichte des bekannten russischen Komponisten Schostakowitsch. Er reibt sich zwischen seinen Prinzipien und den Umständen seiner Zeit auf, aber es gelingt ihm, mit beachtlicher Produktivität unter Stalin und Chruschtschow tätig zu sein.
Christopher Wilson: Guten Morgen, Genosse Elefant
Juri Zipit ist der 12-jährige Sohn des Chefveterinärs im Moskauer Zoo. Als sein Vater Stalin behandeln muss, findet er Gefallen an dem Jungen mit dem Hirnschaden und behält ihn bei sich. Es folgen Dialoge, die berührend und beunruhigend zugleich sind. Die Sowjetunion durch die Augen eines Kindes.
Fabien Nury, Thierry Robin: The Death of Stalin (Comic)
The Death of Stalin ist der deutschsprachige Comic zum gleichnamigen Film, der sich dem absurden Theater widmet, das nach dem Tode Stalins von dessen potentiellen Nachfolgern gespielt wird. Ein Comic, der die ganze menschenfeindliche Absurdität des Systems Stalin offenlegt.
Stephen A. Smith: Revolution in Russland
Zu guter Letzt ein Sachbuchtipp: Revolution in Russland beschreibt die wichtigsten Ereignisse der Oktoberrevolution und reicht von der Vertreibung und Ermordung der Romanows über den Aufstieg Lenins bis schließlich zu Stalin. Fotografien im Innenteil und ein ausführlicher Anhang helfen sehr, die mittlerweile hundert Jahre entfernten Ereignisse zu verstehen. Ein Tipp für alle, die so richtig tief ins Thema einsteigen wollen.
Weitere aktuelle Sachbuchtipps zum Thema sind Das sowjetische Jahrhundert von Karl Schlögel, Die Farbe Rot von Gerd Koenen , das sich mit der Geschichte des Kommunismus über die Sowjetunion hinaus beschäftigt und Geschichte der Sowjetunion 1917-1991: Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates von Manfred Hildermeier.
Könnt ihr aktuellen Werke könnt zum Thema Sowjetunion empfehlen?
Schöner Überblick! Ich empfehle unbedingt noch „Jakobsleiter“ von Ulitzkaja und „Schermanns Augen“ von Mensching und „Die Baugrube“ von Platonow.
Viele Grüße!
Vielen Dank für diese Tipps! Ich schaue mir die Bücher auf jeden Fall an. Demnächst steht bei mir noch Bulgakow auf dem Plan.
Viele Grüße,
Jana
Ich finde das Land als Literaturland total spannend. Auch die Klassiker. Übrigens: Hab nicht verlinkt, aber obige sind alle auf meinem Blog besprochen 😉
Das sieht nach einer Liste aus, die ich gut hätte brauchen können, bevor ich mit dieser „Russischer Herbst“-Sache angefangen habe 😉 Das eine oder andere setze ich vllt jetzt noch auf meine Liste, danke für die ganzen Tipps. So wird der russische Herbst ein russischer Frühling.
Ansonsten kann ich sehr das Buch oder Hörbuch „Sie kam aus Mariupol“ empfehlen über die Revolution der Bolschewiki in der Ukraine und das Zwangsarbeiterdasein von Russen/Ukrainern in Deutschland. Und auch ziemlich aktuell „Das Internat“ von Serhij Zhadan über ein Land im Krieg, worin man schnell die Ukraine erkennt. Besprechungen dazu gibts bei mir im Blog, falls du Lust hast 😉 Mit den Links spamme ich dich mal nicht zu.