Tod, Leid und Elend – die Dostojewskij-Leserunde führte mich bisher in die dunkelsten Ecken Sankt Petersburgs. Warum das Lesen trotzdem Spaß macht.
Hier geht’s zum zweiten Teil des Beitrags.
Kurzfristig durfte ich mich der Leserunde von Miss Booleana, voidpointer und Phantásienreisen zu Fjodor Dostojewskijs bekanntestem Roman „Verbrechen und Strafe“ (in älterer Übersetzung auch „Schuld und Sühne“) anschließen. Seit Februar diskutieren wir auf Twitter unter dem Hashtag #Dostopie.
Worum geht’s?
Die Geschichte dreht sich um den ehemaligen Jurastudenten Raskolnikow, der sein Studium aus finanziellen Gründen abgebrochen hat und seither in einer kleinen Kammer in Sankt Petersburg vor sich hinvegetiert. Halb wahnsinnig vor Hunger – so scheint es zunächst – fasst er den Plan, eine alte Pfandleiherin zu ermorden und sich mit deren Vermögen aus seiner miserablen Lage zu befreien. Später wird deutlich, dass es wohl nicht allein der Hunger war, der ihn zu der grausamen Tat trieb.
Worum geht’s wirklich?
Gesellschaftskritik. Die Beschreibungen des städtischen Lebens in Sankt Petersburg sind nur schwer erträglich: schmutzige Straßen, verwahrloste Menschen, Armut und Elend an allen Ecken und Enden. Die prekäre Wohnsituation sorgt dafür, dass man nicht einmal in Ruhe sterben kann, wenn man das Pech hat, mit der ganzen Familie im Durchgangszimmer zu wohnen. Alkoholismus, Gewalt und Hoffnungslosigkeit prägen den Alltag vieler Figuren. Stark ist, wer trotz allem nicht zum Trinker, Mörder oder schlicht wahnsinnig wird.
Moral. Dürfen „außergewöhnliche“ Menschen „gewöhnliche“ töten, um große Taten zu vollbringen? Raskolnikow glaubt ja und ist sich sicher, selbst im Delirium noch alle Welt an der Nase herumzuführen. Ein Genie, das seinesgleichen sucht. Was ist denn das Leben des Einzelnen wert? Seine menschenverachtenden Vorstellungen machen den Protagonisten zum Unsympathen.
Wie lässt sich’s lesen?
Ausgezeichnet. Großmeisterin Swetlana Geier hat den Roman aus dem Jahr 1866 in ein sehr lesbares Deutsch übersetzt. Insbesondere der kurze Anhang hilft weiter bei unbekannten Wörtern und Ereignissen jener Zeit. Richtig „spannend“ ist es bisher nicht geworden; ein Krimi im eigentlichen Sinne ist Verbrechen und Strafe daher nicht. Wir wissen von Anfang an, dass Raskolnikow den Mord begangen hat und kennen die Details. Nach und nach entwickelt sich das Ganze aber zum Katz-und-Maus-Spiel, denn der Mörder hat offenbar nichts Besseres zu tun, als sich beim Ermittlungsrichter auf einen Tee einzuladen.
Unterhaltungswert?
Definitiv! Man kann sich herrlich aufregen. Das von den männlichen Figuren gepflegte Frauenbild ist zum Weglaufen. Dabei sind es gerade die Frauen, die ihr Elend mit Würde tragen und versuchen, erhobenen Hauptes durchs Leben zu gehen.
Wie Steffi von Miss Booleana ganz treffend feststellte, wähnt man sich ab Mitte des Romans in einer Telenovela. Bekannte begegnen sich ständig im Hof oder in der Kneipe; alle Figuren scheinen nur ein paar Schritte auseinander zu wohnen. Das ist die Lindenstraße von Sankt Petersburg! Wer einmal erwähnt wird, taucht zwangsläufig im Laufe der Erzählung auf. Ehekrisen, Affären, unstandesgemäße Heirat – Dostojewskij bietet dem Leser die volle Bandbreite menschlichen Sensationsverlangens. Über den Protagonisten kann man auch ruhigen Gewissens so richtig herziehen. Denn Raskolnikow ist so verbohrt, antisozial, fast boshaft und dabei so besserwisserisch und arrogant, dass man seine arme Mutter einfach nur fest drücken möchte.
Und sonst?
Ich hab das Buch zum ersten Mal mit zwölf Jahren gelesen; es war mein erster „erwachsener“ Klassiker. War ich damals heillos überfordert, so lässt sich die Geschichte heute viel besser lesen. Durch mehr Übung mit langen russischen Namen und ein Jurastudium, in dem hin und wieder auch mal ein rechtsphilosophischer Gedanke auftaucht, macht das Lesen von Verbrechen und Strafe richtig Spaß. Die wunderbar treffenden Kommentare im Rahmen der Twitter-Leserunde helfen, das Werk von seinem hohen Ross zu holen und auch mal über die verschrobenen Charaktere lachen zu können. Ich bin gespannt, wie’s weitergeht.
Bisherige Beiträge zur Leserunde:
01.02. Ankündigung bei Phantásienreisen
13.02. Ankündigung bei Miss Booleana
27.02. Teil 1 und 2 bei Miss Booleana
07.03. Teil 3 und 4 bei Miss Booleana
09.03. Teil 1–3 bei Phantásienreisen
09.03. Teil 1–3 bei Wissenstagebuch
19.03. Teil 4–6 bei Wissenstagebuch
und unter dem Hashtag #Dostopie.
Liebe Jana,
was für ein gelungener Rückblick! Sehr treffend formuliert und dabei gleichzeitig ein großes Gesamtbild des bisher Gelesenen. „Lindenstraße von Sankt Petersburg“ ist die wohl perfekte Beschreibung – bei diesem Vergleich habe ich mich köstlich amüsiert. 😀
Swetlana Geier hat wirklich eine großartige Arbeit geleistet und sicherlich sehr dazu beigetragen, dass der Roman noch heute so gut lesbar ist. Das hätte ich in meinem Artikel eigentlich auch mal würdigen können …
Respekt, dass du „Verbrechen und Strafe“ bereits mit 12 Jahren das erste Mal gelesen hast! Auch wenn du damals überfordert warst und dich bestimmt auch nur schwer darauf einlassen konntest, ist es doch eine immense Leistung, in diesem Alter einen so dicken, alten und gesellschaftskritischen Roman zu lesen. Das Erlebnis war anscheinend auch nicht so schlimm, dass es dich von dem erneuten Lesen abhalten konnte. 😉
Ich finde es übrigens klasse, dass du dabei bist und finde den Austausch sehr bereichernd!
Liebe Grüße
Kathrin
Hallo Kathrin,
danke für deine lieben Worte und die nette Aufnahme in die Leserunde!
Falls ich irgendwann mal in die Verlegenheit kommen sollte, einem jungen Teenager einen Klassiker empfehlen zu müssen, würde ich vermutlich nicht als erstes „Verbrechen und Strafe“ nennen. 😉 Bei mir ist nur hängen geblieben, dass Raskolnikow die Pfandleiherin ermordet hat und dann nichts mit der Beute anzufangen weiß.
Jetzt finde ich die Gesellschaftskritik und die durch Raskolnikow gelebten kruden Moralvorstellungen viel spannender als die Handlung selbst. Das innere und äußere Spannungsverhältnis, in dem Sonja sich behaupten muss, wird jetzt in der zweiten Hälfte zu meiner liebsten Nebenhandlung.
Beim nächsten großen Roman der russischen Literatur werde ich auf jeden Fall darauf achten, eine Übersetzung von Swetlana Geier in die Finger zu bekommen. 😉
Viele liebe Grüße
Jana
Mit Ende 20/ Anfang 30 liest man Klassiker mit ganz anderen Augen. Man hat dann einfach selbst mehr erlebt und ist altersmäßig auch näher an den Protagonisten. Zum Lesen von Klassikern in der Schule habe ich auch immer gemischte Gefühle. Einerseits gibt es Bücher wie „Animal Farm“, „Der Report der Magd“ oder „1984“, deren Botschaft so wichtig ist und die teilweise von hoher Aktualität sind, dass sie Jugendliche früh für die Techniken und Folgen von Manipulation/ Propaganda sensibilisieren können. Andererseits ist ein Großteil der Klassiker inhaltlich so weit weg von der Lebenswelt Jugendlicher und sprachlich nicht ohne, dass es viele einfach auch überfordert bzw. viele keinen Zugang finden können. Und das zwingende Erörtern und Interpretieren macht das nicht leichter. Ich fand es als Schülerin immer schwierig, in den Texten Rückschlüsse auf die politischen, religiösen und gesellschaftlichen Hintergründe zu ziehen, weil mir dazu einfach das historische Wissen fehlte. Im Geschichtsunterricht wurde eine Epoche zu einer ganz anderen Zeit behandelt als im Deutsch-, Kunst-, Ethik- oder Sozialkundeunterricht. Jedes Fach behandelte den jeweiligen Stoff isoliert und schlug nie Querverbindungen zu anderen Aspekten. Dadurch konnte ich nie die notwendigen Verbindungen herstellen. Das habe ich tatsächlich erst als Erwachsene (und vor allem im Masterstudium) gelernt.
„die Lindenstraße von Sankt Petersburg“ – herrlich 😉 Und das trifft den Nagel auf den Kopf liebe Jana. Es ist ja auch unser erstes gemeinsames Lesen, obwohl wir unsere Blogs gegenseitig eigentlich schon ein Weilchen verfolgen, oder? Finde ich sehr spannend – schön, dass du dabei bist. 🙂
Und krass, dass du dich mit 12 Jahren an das Buch rangetraut hast. Hast du das durchgehalten? Ich glaube mir wäre der Inhalt mit 12 zu langweilig gewesen. (Was ich heute natürlich anders sehe)
Hallo Steffi,
die Leserunde passte wie Faust aufs Auge. Ich bin schon seit einiger Zeit wieder um den Roman herumgeschlichen, hatte vom damaligen Lesen aber nicht die besten Erinnerungen (fast gar keine mehr außer „laaaangweilig“). Ich hab’s damals tatsächlich ganz durchgelesen; weiß auch noch grob, wie die Geschichte ausgeht, aber mit meinem jetzigen Wissen und der bislang angesammelten Lebenserfahrung 😉 liest sich der Roman tausendmal angenehmer.
Wo ich früher eingeschüchtert gedacht habe „Verstehe ich alles nicht …“, erkenne ich jetzt mit mehr Selbstvertrauen (und euren ironischen Kommentaren bei Twitter!), dass Dostojewskij seinen Figuren neben philosophischen Höhenflügen manchmal auch einfach dummes Gewäsch in den Mund gelegt hat. Und dass die Geschichte insgesamt – neben den ernsten Tönen, die angeschlagen werden – richtig unterhaltsam ist.
Im Klappentext steht, dass Swetlana Geier es schafft, jeder Figur die Stimme zu geben, die Dostojewskij für sie erdacht hat. Das finde ich sehr treffend. Katerina Iwanownas Gezeter (bei mir lebt sie noch so gerade?) und Sonjas zurückhaltende Art würde ich unter allen Stimmen sofort wiedererkennen.
Jetzt feiere ich noch den letzten Teil und schiele schon mal verstohlen auf „Der Idiot“. 🙂
Viele Grüße!
Jana