Tod, Leid und Elend – die Dostojewskij-Leserunde führte mich in die dunkelsten Ecken Sankt Petersburgs. Warum das Lesen trotzdem Spaß gemacht hat.
Hier geht’s zum vorherigen Beitrag zu Teil 1–3.
Kurzfristig durfte ich mich der Leserunde von Miss Booleana, voidpointer und Phantásienreisen zu Fjodor Dostojewskijs bekanntestem Roman „Verbrechen und Strafe“ (in älterer Übersetzung auch „Schuld und Sühne“) anschließen. Seit Februar diskutieren wir auf Twitter unter dem Hashtag #Dostopie.
Worum geht’s?
In der zweiten Hälfte des Romans zieht sich die Schlinge um Raskolnikows Hals zu. Am Ende gibt es fast kaum einen, der nicht von seinen Morden an der alten Pfandleiherin und deren Schwester weiß. Trotzdem ist es immer noch allein an ihm, sich der Polizei zu stellen. Die Konflikte zwischen den einzelnen Figuren eskalieren und es kommt vermehrt zu pointierten Wortgefechten etwa zwischen Raskolnikow und dem unsäglichen Ex-Verlobten seiner Schwester, zwischen dieser und deren Ex-Stalker und zwischen Raskolnikow und seiner Jetzt-etwa-doch?-Geliebten Sonja. An dieser Stelle die klare Empfehlung, kein Kapitel des Romans auszulassen. Wäre, als hätte man eine ganze Woche Nachbarschaftsklatsch verpasst.
Zunehmend wird Raskolnikow die Ausweglosigkeit seiner Situation bewusst. Durch Flucht könnte er sich zwar den Behörden entziehen, nicht jedoch der Gedankenspirale in seinem Kopf. Wobei sich diese bis zuletzt etwa nicht um seine strafrechtliche und moralische Schuld, sondern darum dreht, dass er zu „schwach“ ist, die Morde einfach regungslos wegzustecken. Das erschüttert sein Selbstbild nachhaltig. Als Leser fragt man sich, wie jemand so verbohrt an seiner amoralischen Theorie festhalten kann, wenn ihm einfach alles um ihn herum ihre Unrichtigkeit vor Augen führt.
Worum geht’s wirklich?
Plötzlich rücken Themen wie Glaube, Sühne und auch Selbstmord in den Fokus. Die Zweiteilung des Titels „Verbrechen und Strafe“ oder auch „Schuld und Sühne“ wird durch die inhaltliche Aufteilung gestützt und ist schlichtweg genial gewählt.
Jede der Figuren versucht ihren Weg aus dem Labyrinth von Armut, Gewalt und Unglück zu finden; nicht wenigen hat Raskolnikow durch seine Tat das Herz gebrochen. Sonja findet Halt in ihrem Glauben, der sie bis zur Selbstaufgabe an ihren Auserwählten bindet. Dunja darin, dass sie sich rabiat und endgültig aus der Rolle der begehrten Schönen befreit – auch mit Gewalt. Swidrigajlow, der vor Mord und Vergewaltigung nicht zurückschreckt, versucht es zuerst mit Wohltätigkeit, kann aber bis zuletzt keine Erlösung finden. Rasumichin findet Ruhe durch seine bedingungslose Hingabe an Dunja und deren Mutter. Andere Figuren finden nichts und sterben schließlich.
Die Botschaft, die ich mitgenommen habe: Wer an irgendetwas glauben kann – eine Idee, einen Gott, sich selbst oder die Liebe – hat genug Kraft, selbst das größte Unglück zu überstehen.
Unterhaltungswert?
Noch höher als in der ersten Hälfte. Viele der Szenen in Teil IV–VI haben fast filmischen Charakter. Wie der unsägliche Luschin versucht zu intrigieren und vor versammelter Trauergemeinde bloßgestellt wird, ist ein Fest. Die nach dem ganzen Vorgeplänkel unvermeidliche Szene zwischen Dunja und Swidrigajlow könnte man gar „actionlastig“ nennen. Mit Swidrigajlow hat Dostojewskij eine interessante Figur geschaffen. Natürlich ist er ein Widerling, aber die Konsequenz, die er daraus zog, hat mich doch überrascht und nachdenklich zurückgelassen.
Schwach fand ich, wie schon im ersten Teil, die eigentlichen Schlüsselpassagen zwischen Staatsanwalt Porfirij und dem immer noch nicht offiziell beschuldigten Raskolnikow. Die zogen sich für meinen Geschmack zu sehr in die Länge, ohne wirklich Neues auf der Handlungs- oder Charakterebene zutage zu fördern.
Das Frauenbild ist immer noch zum Weglaufen. Ältere Frauen sind durchweg „Mütterchen“, zetern, zanken und weinen viel (Katerina Iwanowna, ihre deutsche Vermieterin, Raskolnikows Mutter, Marfa Petrowna). Junge Frauen sind entweder Huren oder Heilige (in Sonjas Fall beides – hatte die eigentlich mal Kunden?). Wobei die Heiligen überwiegen und jede Andeutung von weiblicher Lust sich allein in den Ausführungen Swidrigajlows findet – und damit ziemlich widerlich rüberkommt. Selbst Dunja ist im Moment ihres Befreiungsschlages „so schön wie nie“, statt einfach nur selbstbestimmt und mutig. Was bleibt, ist die starke Überzeugung: Ohne die Frauenfiguren liefe in dieser Geschichte gar nichts.
Fazit
Eine klare Empfehlung! Die Geschichte bietet sich zum gemeinsamen Lesen an, denn der Roman hat neben rechtsphilosophischen Überlegungen und Gesellschaftskritik einen hohen Unterhaltungswert. Der hat sich zumindest für mich hauptsächlich durch den Austausch über die teils grotesken Figuren eingestellt. Es waren die Nebenfiguren, die mir trotz des drögen Protagonisten ein tolles Leseerlebnis bescherten: Freude, Mitleid, Ekel, Kummer, Genugtuung, Schadenfreude – Dostojewskij bietet seinem Leser die ganze Gefühlspalette. Garantiert nicht mein letzter Roman von ihm.
Bisherige Beiträge zur Leserunde:
01.02. Ankündigung bei Phantásienreisen
13.02. Ankündigung bei Miss Booleana
27.02. Teil 1 und 2 bei Miss Booleana
07.03. Teil 3 und 4 bei Miss Booleana
09.03. Teil 1–3 bei Phantásienreisen
09.03. Teil 1–3 bei Wissenstagebuch
19.03. Teil 4–6 bei Wissenstagebuch
und unter dem Hashtag #Dostopie.
Liebe Jana,
inzwischen fand ich endlich die Zeit, meine Gedanken zu verbloggen und auch deinen Beitrag noch einmal in Ruhe zu lesen statt „nebenbei“.
Du bringst alles auf den Punkt und ich habe an dieser Stelle auch gar nichts zu ergänzen. Über die zentralen Punkte wie das Frauenbild haben wir uns ja eh schon ausgiebig auf Twitter unterhalten. Deine Botschaft, die du mitnimmst, finde ich aber gerade sehr spannend. Ich selbst hatte leider das Gefühl, für mich wenig / weniger als erhofft mitnehmen zu können (außer: wie glücklich wir uns mittlerweile hinsichtlich des Status der Frau fühlen können). Vielleicht liegt das in meinem Fall daran, dass ich die großen Themen in den letzten Jahren so oft (und intensiver) in anderen Klassikern erfahren habe, v. a. was das Thema Vergebung und Glaube betrifft, das bspw. bei Tolstoi und Hugo regelmäßig auftaucht. Trotzdem finde ich die Botschaft, die du mitnimmst, sehr schön und hoffnungsvoll. 🙂
„Als Leser fragt man sich, wie jemand so verbohrt an seiner amoralischen Theorie festhalten kann, wenn ihm einfach alles um ihn herum ihre Unrichtigkeit vor Augen führt.“ Das habe ich mich auch immer wieder gefragt und bis heute keine zufriedenstellende Antwort darauf gefunden. Vielleicht hat Rodja sich dahingehend zuletzt auch nur selbst etwas vorgemacht, vielleicht war dieser Glaube an seine Theorie nur eine Art Strohhalm, an den er sich klammerte, um nicht an seiner eigenen Tat zu zerbrechen. Zugegeben, das ist jetzt ein sehr weit hergeholter Gedanke, aber was Rodjas Gedankenwelt angeht, habe ich die ganze Zeit immer im Dunkeln getappt. Wie du fand auch ich die Nebenfiguren deutlich interessanter, selbst die Szenen mit dem Widerling Luschin habe ich mit größerer Spannung verfolgt – ihn konnte ich einordnen, während Rodja für mich von zu vielen Widersprüche geprägt war.
Ohne euch drei hätte ich den Roman aber vermutlich noch einmal ganz anders wahrgenommen und hätte sicher weniger Durchhaltevermögen gezeigt. 😉 Danke daher noch einmal an dieser Stelle für den Austausch, den ich sehr genossen habe!
Liebe Grüße
Kathrin
Hallo Kathrin,
danke für deinen ausführlichen Kommentar! Mir hat das Lesen auch großen Spaß gemacht und ich bin sehr gespannt auf den nächsten großen russischen Roman „Anna Karenina“: Tolstoi zu lesen, wird bestimmt helfen, Dostojewskij besser einordnen zu können und noch einmal in einem anderen Licht zu sehen. Das hattest du mir schon voraus und ich erhoffe mir noch ein bisschen Erhellung aus der Richtung. 😉 Ich freu mich, wenn du dich am Austausch #LeoUndAnna beteiligst!
Viele Grüße und alles Gute für den anstehenden Umzug (ich hab’s gerade hinter mir)!
Jana
Mir hat besonders gefallen, wie du verschiedene Perspektiven beleuchtest.