Der schwerkranke jüdische Patriarch Otto schikaniert seine Töchter, wo es nur geht. Trotzdem kümmern sie sich hingebungsvoll um ihn. Was es damit auf sich hat, erzählt Dana von Suffrin in ihrem Debütroman. Für mich keine glückliche Allianz von Humor und Melancholie.
Darum geht‘s
Otto ist der alte und schwerkranke Vater der Erzählerin Timna und ihrer Schwester Babi. Seine letzten Lebensjahre in München sind von langen Krankenhausaufenthalten geprägt. Die Schwestern besuchen ihn täglich und organisieren auch eine Pflegerin aus seiner Heimat Siebenbürgen für ihn. Otto zeigt sich nicht sonderlich dankbar und überschreitet häufig den nicht allzu schmalen Grat zwischen anspruchsvoll und beleidigend. Für Außenstehende ist Otto schlicht ein Tyrann. Doch die Töchter kommen nicht von ihm los und vergessen darüber, ihr eigenes Leben auf die Reihe zu kriegen.
Der erste Eindruck
Auf den ersten Blick schien Dana von Suffrins „Otto“ genau das richtige für mich zu sein. Ich hatte die Geschichten von Deborah Feldman (Unorthodox und Überbitten) und Chaim Potoks „Die Erwählten“ über jüdische Lebenswelten verschlungen und versprach mir daher einiges von Otto. Tatsächlich spielen die jüdischen Wurzeln der Familie eine überragend wichtige Rolle in dem Roman. Die Familie wohnt mal im osteuropäischen Schtetl, mal in Israel und die eine oder andere Tradition wird aufrecht erhalten. Trotz des vertrauten Settings konnte mich der Roman aber nicht überzeugen.
Die dysfunktionale Familie – weg mit den Vorurteilen
Was gut war: Dana von Suffrin gelingt es, die Verstrickung von Pflichtgefühl, Traditionsbewusstsein, Mitleid, Dankbarkeit, Liebe und Erpressung zu beschreiben und zu erklären warum sich die beiden Schwestern um den grantigen Vater kümmern. Die Beweggründe der Frauen sind durchweg nachvollziehbar dargestellt. Angenehm anders: Dana von Suffrin „Otto“ erzählt durchweg die Geschichte einer dysfunktionalen Familie. Otto heiratet und trennt sich wieder und flieht Hals über Kopf, um nicht heiraten zu müssen. Die Kinder wechseln zwischen ihm und der alkoholkranken Mutter hin und her. Es gibt zu viele Hunde und zu wenig Fürsorge. Als ich „jüdische Familiengeschichte“ und „alternder Patriarch“ las, hatte ich gleich Generationen von erfolgreichen Sprösslingen vor Augen. Bestimmt ein literarisches Vorurteil und zum Glück eines, dem Dana von Suffrin sofort den Boden entzieht.
Zwischen Witz und Geschmacklosigkeit
Der „Patriarch“ in dieser Geschichte ist nicht würdig, sondern ein grantiger alter Mann, der am liebsten beim Abendessen über seinen Urin spricht. Die „Sprösslinge“ kommen im Leben nicht gut zurecht; sie sind arbeitslos und landen ungewollt in psychiatrischen Einrichtungen.
Natürlich geht mit alldem ein gewisser Witz einher. In Besprechungen habe ich gelesen, dass Dana von Suffrin sich mutig in eine jiddische Erzähltradition stellt und Melancholie und Witz miteinander verbindet. Ich kann nachvollziehen, was damit ausgedrückt werden soll, doch beim Lesen habe ich anders empfunden.
Am Anfang ist man als Leser noch betroffen und schluckt, wenn beiläufig in einem Halbsatz der Bezug zum Holocaust hergestellt wird. Spätestens ab der Mitte des Buches hat sich dieses stilistische Mittel aber abgenutzt und die Beiläufigkeit, mit der die „Spitzendecken deportierter Tanten“ einem hingeworfen werden, wirkt schlicht geschmacklos. Andere Passagen wiederrum weisen eine so hohe Dichte an furchtbaren Begebenheiten auf, dass sie auf mich unfreiwillig komisch wirken:
„Manchmal rief Ottos Cousine aus Haifa an; Olga, deren älterer Bruder Ernst Epileptiker war und zu Doktor Mengele geschickt wurde, und der nach zwei Wochen in Form einer kleinen Tüte Asche zurückkehrte, sodass Olgas Eltern nach dem Krieg beschlossen, Olga noch ein Geschwisterchen zu machen, das dann an seinem ersten Tag im Kindergarten an einer Erbse erstickte.“ S. 187
Fazit
Am Ende des Romans hatte ich Witziges und Furchtbares gelesen, aber hatte nicht den Eindruck, dass die Fusion zu einem „anarchischen, schwarzen Humor“ geglückt ist. Dana von Suffrin „Otto“– für mich leider eine Enttäuschung.
Weitere Meinungen zum Roman
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Ich kann deine Kritik nachvollziehen, hatte aber selbst beim Lesen kein Problem damit. Mir gefiel es ganz gut.
Viele Grüße
Silvia
Hallo Silvia,
wie gut, dass der Geschmack unterschiedlich ist. 🙂 Ich mag es, wenn viele Menschen ein Buch zur selben Zeit lesen und bewerten; so bekommt man innerhalb kurzer Zeit sehr viele verschiedene Meinungen zu hören. Ein toller Effekt – neben der Verlagswerbung ;-).
Viele Grüße
Jana