„Atemschaukel“ von Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller ist eines der beeindruckendsten und traurigsten Bücher, das ich bisher gelesen habe.
Herta Müller schreibt die Geschichte des 17-jährigen Leo, der als deutschsprachiger Rumäne aus seinem Dorf fortgeholt wird und ab 1945 für fünf lange Jahre Zwangsarbeit in einem russischen Lager leisten muss. Zu Hause begann er gerade, seine Homosexualität heimlich auszuleben, doch das rückt für die nächsten Jahre völlig in den Hintergrund, denn im Lager kämpft er allein um sein Überleben.
Ich wusste zu gut, es gibt ein inneres Gesetz, wonach man mit dem Weinen nie anfangen darf, wenn man zu viele Gründe hat.
Die Schilderungen von harter Arbeit, Krankheit, Entbehrung, Heimweh und kleinsten Gesten der Menschlichkeit sind extrem eindringlich. Grausam und gleichermaßen poetisch lesen sich die Beschreibungen vom Hunger, der jeden einzelnen Tag im Lager bestimmt. Herta Müller hat dafür eine Sprache geschaffen, wie ich sie bisher noch nirgendwo gelesen habe:
Ich esse buchstäblich das Leben selbst, seit ich nicht mehr hungern muss. Ich bin eingesperrt in den Geschmack des Essens, wenn ich esse. Ich esse seit meiner Heimkehr aus dem Lager, seit sechzig Jahren, gegen das Verhungern.
Besonders bemerkenswert sind die Wortneuschöpfungen wie Atemschaukel, Herzschaufel und Hungerengel, die sich derart selbstverständlich in die Erzählung einfügen, dass man sich fragt, warum die deutsche Sprache diese Wörter nicht schon länger kennt.
Der Hungerengel denkt richtig, fehlt nie, geht nicht weg, kommt aber wieder, hat seine Richtung und kennt meine Grenzen, weiß meine Herkunft und seine Wirkung, geht offenen Auges einseitig, gibt seine Existenz immer zu, ist ekelhaft persönlich, hat einen durchsichtigen Schlaf, ist Experte für Meldekraut, Zucke rund Salz, Läuse und Heimweh, hat Wasser im Bauch und in den Beinen.
Fazit
„Atemschaukel“ ist ein absolut beeindruckender Roman, der die Grenzerfahrungen seines Protagonisten in der Extremsituation eines Lageralltags in poetischer Sprache darstellt. Durch präzise Wortneuschöpfungen wird das Erleben der Hauptfigur auf schmerzhafte Weise seziert. Definitiv kein Buch für Zwischendurch, aber nach dem Lesen ein großer persönlicher Gewinn.
Historischer Hintergrund
1945 forderte Russland die rumänische Regierung auf, den „Wiederaufbau“ der im Krieg zerstörten Sowjetunion zu unterstützen. Alle Männer und Frauen im Alter von 17 bis 45 Jahren wurden in sowjetische Arbeitslager deportiert. Sie wussten nicht, wie lange sie bleiben mussten und arbeiteten unter unerträglichen Bedingungen. Die Rückkehrer sprachen oft nicht über ihre Zeit im Lager, dabei gab es in fast jeder Familie Mitglieder mit Lagererfahrungen.
Herta Müller, Atemschaukel, Carl Hanser Verlag 2009, 299 S.
Weitere Meinungen zum Buch bei:
Weitere Romane über das Leben in einem Zwangslager:
Dalia Grinkevičiūtė: Aber der Himmel – grandios [Gulag]
Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen [NS-Vernichtungslager]
Adam Johnson: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do [Nordkoreanisches Arbeitslager]
Julie Otsuka: Als der Kaiser ein Gott war [US-amerikanisches Internierungslager]
Hallo Jana, danke für die Besprechung. Ich habe Herta Müller vor einigen Jahren auf einem Literaturfestival erlebt, und schon die von ihr gelesenen Passagen ihrer Bücher waren so beklemmend, dass ich nie einen Titel in die Hand genommen habe. Trotzdem toll.
Liebe Grüße
Niamh
Hallo Niamh,
danke für deinen Kommentar. Ich würde Herta Müller auch gern einmal lesen hören, das stelle ich mir sehr beeindruckend vor. Das ganze Buch las sich – wie du schreibst – beklemmend. Noch Tage danach stand ich ganz unter dem Eindruck. Als ich die leere Butterverpackung entsorgt habe, habe ich mich gefragt, wie lange die Lagerbewohner wohl mit der Kalorienmenge, die ich gerade weggeworfen hatte, auskommen mussten. Beklemmend trifft’s sehr gut. Aber das nächste Buch von ihr muss erst mal warten; ich habe gleich darauf einen freundlichen Fantasy-Roman angefangen, denn jetzt muss ich erst mal ein paar Bücher lang verschnaufen.
Ich habe übrigens mit Begeisterung deine Vietnam-Berichte gelesen! Was für eine beeindruckende Reise! Schön, dass du so direkt über deine Eindrücke schreibst. Da fühlte ich mich fast, als sei ich dabei gewesen.
Viele Grüße
Jana