Der norwegische Autor Lars Mytting („Der Mann und das Holz“) erzählt im ersten Teil seiner Trilogie „Die Glocke im See“ die Geschichte der jungen Bäuerin Astrid, die sich zwischen einem Leben mit einem Dorfpfarrer und einem aufstrebenden Architekten aus dem fernen Dresden entscheiden muss.
Inhalt
Von der Außenwelt abgeschnitten
Astrids Heimatdorf Butangen liegt im norwegischen Gudbrandstal und ist im Jahr 1880 immer noch von der Außenwelt unberührt. Die Eisenbahnlinie verläuft in großer Entfernung und der Weg bis in die nächste Hafenstadt Christiania (Oslo) ist beschwerlich. Nachrichten aus der Außenwelt erreichen das Dorf nur selten. Im Winter bestimmen eisige Kälte und Hunger die Tage und viele Bewohner haben mittlerweile in Amerika ein besseres Leben gesucht. Der neue Pfarrer verzweifelt fast an den harten Lebensbedingungen:
„In ganz Europa war die neue Zeit, war die Vernunft auf dem Vormarsch, doch hier hatte er im Kampf gegen Frost und Not, Tuberkulose und Unterernährung, Dunkelheit und Aberglauben keine anderen Waffen als seine Kanzel und seine schmale Armenkasse.“
S. 143
Als dann noch in der baufälligen Kirche eine alte Frau erfriert, beschließt der Pfarrer etwas im Dorf noch nie Dagewesenes: Eine neue Kirche soll gebaut werden. Die jahrhundertealte traditionelle Stabkirche aus Holz, noch mit nordischen Fabelwesen verziert, muss weg.
Die Stabkirche auf Reisen
Ein Dresdner Architekturprofessor bekommt Wind davon und kauft das Gebäude. Er schickt seinen besten Studenten nach Norwegen, um die Kirche dort ab- und in Dresden als Kulturdenkmal wieder aufbauen zu lassen. Doch die Architektur des Holzbaus ist so kompliziert und seit Jahrhunderten in Vergessenheit geraten, dass sich die Mission in die Länge zieht. Zudem scheint die alte Stabskirche ein wahres Eigenleben zu führen:
„Sämtliche Einwohner von Butangen hatten hier etwas hinterlassen, und sei es noch so klein; jetzt kam es Astrid so vor, als hätte etwas Unbekanntes, Geduldiges, das sich noch immer in der Kirche bewegte, all diese Hinterlassenschaften gesammelt, hätte alles Seufzen und Flüstern, alle Sehnsucht und alles Glück zu dem dünnen Nebel aus Staub verwandelt, der in den Lichtstreifen von den Öffnungen weit dort oben herabrieselte.“
S. 293
Sowohl Pfarrer als auch Architekt bemühen sich um die wissbegierige, intelligente Astrid, die ihrer vorbestimmten eintönigen Zukunft im Dorf zu entkommen versucht. Doch Astrid muss sich für denjenigen entscheiden, der die Glocken der Kirche retten kann. Denn diese haben einst ihre Vorfahren gespendet und um sie rankt sich eine einzigartige Sage.
Figuren
Lars Mytting zeichnet seine drei Hauptfiguren, die junge Bäuerin Astrid Hekne, den Dorfpfarrer Kai Schweigaard und den Architekturstudenten Gerhard Schönauer genau und mit viel Liebe zum Detail. Sie sind mit ihren Eigenarten, Ambitionen und widersprüchlichen Gefühlen nachvollziehbare Figuren, die dem Leser unmittelbar vor Augen stehen.
Dabei ist insbesondere die Figur der Astrid bemerkenswert. Mytting beschreibt sie als intelligente, selbstbestimmte Frau, ohne dabei den Fehler zu begehen, sie über alle Maßen zu erhöhen. Sie ist intelligent, aber nicht übermenschlich genial. Sie spricht wie selbstverständlich den örtlichen Dialekt und weiß, dass die Entscheidung, wen sie heiratet, darüber bestimmt, was für ein Leben sie führen wird. Myttings Astrid ist nicht moralisch überlegen, sondern ebenso wie alle Figuren, Teil des Dorfes, Teil des Gudbrandstals.
Stil
Lars Mytting beschreibt in „Die Glocke im See“ detailreich und genau das Dorfleben im Norwegen der 1880er Jahre. Die gewaltige Natur und die unerbittlichen Winter werden so genau dargestellt, dass kein Zweifel daran besteht, dass der Autor sie beim Schreiben vor Augen hatte. Auch die täglichen Verrichtungen der Dorfbewohner, vom Melken, Abweiden bis hin zum sonntäglichen Kirchgang werden so sorgfältig beschrieben, dass es dem Roman Tiefe verleiht. Das Dorf Butangen mit seinen Bewohnern, die norwegische Natur und auch die Stabskirche werden zu Protagonisten, die Einfluss auf das Leben der Figuren nehmen.
Eindruck
Stärken
Anfangs war ich skeptisch, was Lars Mytting über den Abbau einer Holzkirche – und sei sie noch so spektakulär – auf fast 500 Seiten schreiben wollte. Nach und nach entfaltet er dann aber ein Panorama des norwegischen Dorflebens im Jahr 1880, das seinesgleichen sucht. Bräuche und Traditionen der Dorfbewohner, ihre Einstellung zu Religion im Allgemeinen und der evangelischen Lehre im Besonderen, der Umgang mit unehelichen Kindern, die gesundheitlichen Probleme der Zeit, … Die kleinen Anmerkungen sind so vielgestaltig und mühelos eingestreut, dass man im Anschluss nicht nur etwas über Stabskirchen, sondern über die Lebensbedingungen im Gudbrandstal weit darüber hinaus gelernt hat.
Mytting verliert sich nicht in architektonischen Beschreibungen, sondern verknüpft sie mit den Motiven und Gefühlen seiner Figuren. Das an sich eher spröde Thema „Architektur von mittelalterlichen norwegischen Sakralbauten“ wird lebendig. Aus ihm entspinnt sich eine fesselnde Geschichte, die auch die zwei weiteren Bände der Trilogie wird füllen können.
Schwächen
Schwächen zeigen sich allerdings am Ende dieses ersten Bandes „Die Glocke im See“ dort, wo Lars Mytting über die Vorgänge im Geburtshaus berichtet. Die Schilderungen hier wirken seltsam leblos und stehen im Kontrast zum Detailreichtum der Beschreibungen anderer Orte und Themen. Mytting zieht sich hier auf Allgemeinplätze wie „Schreien auf den Fluren“ und „viel Blut“ zurück. Ob es daran lag, dass Recherchematerialien zum Thema rar sind oder ein Geburtshaus wie es sich um 1880 in norwegischen Städten fand, nicht mehr besichtigt werden kann, lässt sich nicht sagen. Jedenfalls merkt man der Beschreibung an, dass dem Autor der Schauplatz nicht ebenso vor Auge stand wie etwa die Natur im Gudbrandstal.
Seltsam deplatziert wirkt auch die Betrachtung des Schöngeistes Gerhard Schönauer über den Geruch seiner eigenen Ausscheidungen. Warum diese Passage eingebaut wurde, blieb mir bis zum Schluss unklar.
Fazit
„Die Glocke im See“ von Lars Mytting ist ein detail- und lehrreicher Roman über die Lebensbedingungen im ländlichen Norwegen des Jahres 1880. Mit seinen anschaulichen Beschreibungen und überzeugenden Figuren hat mich dieser erste Teil einer Trilogie in seinen Bann gezogen.
Lars Mytting, Die Glocke im See, OT: Søsterklokkene, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Insel Verlag 2019, 482 S., 24 €.
Foto von iKlicK auf pixabay.
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