So weit entfernt und doch so ähnlich: Cho Nam-Joo schreibt in „Kim Jiyoung, Born 1982“ über die Diskriminierung von Frauen, die sich auch in der südkoreanischen Gesellschaft tief eingegraben hat. Der Roman gehörte zu meinen Lieblingsbüchern des Jahres 2020.
Der Inhalt
Die Mittdreißigerin Kim Jiyoung (der Vorname folgt im Koreanischen dem Familiennamen) beschreitet einen auf den ersten Blick durchschnittlichen, erfolgreichen Lebensweg. Sie wächst bei Eltern auf, die für den wirtschaftlichen Boom des ehemaligen Agrarstaates Südkorea gearbeitet haben und kann als eine der ersten aus ihrer Familie die Universität besuchen. Sie wird in der Uni Mitglied des Wandervereins, findet einen Job, arbeitet, hat Dates mit Männern und heiratet schließlich.
Doch von einem Tag auf den anderen verweigert sie sich völlig. Jiyoung spricht nicht mehr, und wenn, dann vermeintlich komisches Zeug. Sie weigert sich, vor den Feiertagen für die Schwiegerfamilie tagelang in der Küche zu stehen. Sie weigert sich, jede Beleidigung – und kommt sie auch von älteren, respektablen Menschen – kommentarlos hinzunehmen. Kurzum, sie benimmt sich nicht mehr weiblich.
„I’m putting my youth, health, job, colleagues, social networks, career plans and future on the line. […] But what about you? What do you lose by gaining a child?“
S. 124
Die Figur Kim Jiyoung
Die Buchrückseite fasst die Figur ausgezeichnet zusammen. Jiyoung ist erst Mädchen, dann eine erwachsene Frau, die viele Rollen spielen muss. Stets wird sie nur über Männer – über ihren Vater, Bruder, Ehemann oder Arbeitgeber – definiert. Sie rackert sich ab und rennt trotzdem überall gegen Wände. Sie wird nicht eingestellt, weil sie schwanger werden könnte. Sie wird nicht befördert, weil sie schwanger werden könnte. Sie will eigentlich gar nicht schwanger werden, weil sie ihren Job mag und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein weit entfernter Traum ist.
„Jiyoung went to countless interviews after that, where interviewers made references to her physical appearance or lewd remarks about her outfit, stared lecherously at certain body parts and touched her gratuitously. None of these interviews led to a job.“
S. 90
Der Stil der Autorin Cho Nam-Joo
Cho Nam-Joo schreibt lakonisch, fast einsilbig. Der Roman erzählt zwar auf klassische Art die Entwicklungsgeschichte seiner Protagonistin. Cho Nam-Joo schreibt dabei aber vielmehr eine Bestandsaufnahme der (fehlenden) Gleichberechtigung von Mann und Frau in Südkorea. Die Sprache übermittelt diese Intention sehr treffend. Nicht wenige Male habe ich mich gefragt, wie akkurat die Übersetzung ins Englische wohl ist, weil viele Sätze so ungewöhnlich kurz anmuten.
Cho Nam-Joos Sprache bildet die Gefühlslage ihrer Protagonistin grandios ab: Jiyoung ist fassungslos, wie sie in die „Frauen-Falle“ geraten konnte, obwohl sie das Unheil ihr ganzes Leben lang kommen sah.
Kim Jiyoung ist jede Frau – nicht nur in Südkorea
Es waren oft Kleinigkeiten, die einem nicht sofort in den Sinn kommen, wenn man an Diskriminierung von Frauen in Industriestaaten denkt: beispielsweise, dass die männlichen Familienmitglieder das größere Stück Fleisch am Mittagstisch bekommen oder dass man ab Mitte Zwanzig das untrügliche Gefühl hat, dass einem bei Familienfeiern alle Anwesenden auf den Bauch starren (wenn es nur dabei bleibt).
Jiyoung said they weren‘t planning on having children yet, but the elders were convinced, regardless of Jiyoung’s input, that she couldn’t get pregnant, and proceeded to investigate. She’s too old … She’s too skinny … Her hands are cold… She must have bad circulation … The zit on her chin is a sign of an unhealthy uterus… They concluded the problem was her.
S. 120
Misogynie ist nicht immer laut, sondern kommt viel häufiger leise und mit einem gönnerhaften Lächeln gepaart daher. Obwohl Cho Nam-Joo über das ferne Südkorea schreibt, findet sie hier auf die eine oder andere Weise wohl jede Frau mit ihren eigenen Erfahrungen wieder. Beim Lesen mutierte ich zum Wackeldackel, der fast unentwegt beim Lesen nickte.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Deutschland und Südkorea
Sehr vereinfacht kann man feststellen, dass die wirtschaftliche und politische Entwicklung Deutschlands und Koreas seit dem Zweiten Weltkrieg sich in einigen Punkten ähnelt. Sowohl Westdeutschland als auch Südkorea erlebten ein Wirtschaftswunder, der mit dem Aufbau von Wohlstand innerhalb einer zunächst stetig wachsenden Mittelschicht einherging. Beide Staaten kennen die Teilung ihres Landes und viele sich daraus ergebende Probleme.
Dabei ist der kulturelle und religiöse Hintergrund beim von konfuzianischer Ethik geprägten Südkorea ein anderer als im konfessionellen Fleckenteppich Deutschland. Das macht es spannend zu lesen, wie ähnlich die gesellschaftliche Entwicklung sich im Hinblick auf die Gleichberechtigung von Frauen verläuft.
Fazit
„Kim Jiyoung, Born 1982” von Cho Nam-Joo ist ein in seiner Klarheit bestürzender Roman über die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in Südkorea. Er ist in seiner Schilderung von Misogynie so universell, dass sich Frauen auf der ganzen Welt darin wiederfinden werden. Ein pointiertes, wichtiges Buch.
Eigene Erfahrungen: Unterschiede zwischen Ost und West, Stadt und Land
Zum Schluss noch einige persönliche Eindrücke, über die ich gern mit euch ins Gespräch kommen würde:
Viele der im Roman geschilderten Situationen kamen mir aus meiner Kindheit in einem westdeutschen Dorf sehr vertraut vor, während sie GesprächspartnerInnen aus der ehemaligen DDR fremd waren. Etwa die Frage, ob es sich überhaupt lohnt, einem Mädchen eine Berufsausbildung (geschweige denn höhere Bildung) zukommen zu lassen. Für die Generation meiner Großmutter war die Antwort ein klares „Nein“, für die Genration meiner Mutter ein allgemeines „Jedenfalls solange, bis sie heiratet und Kinder bekommt“.
Ich frage mich immer noch, woran diese innerdeutschen Unterschiede bei der Gleichberechtigung liegen. Ist es ein Unterschied zwischen alter Bundesrepublik und DDR? Oder ist es ein Unterschied zwischen Stadt und Land? Liegt es gar an der konfessionellen Prägung eines Landstrichs? Ich war geschockt, als ich mit Mitte zwanzig erstmals über 80-jährige Frauen traf, die eine Ausbildung absolviert, ihr eigenes Geld verdient oder gar studiert hatten. Bis dahin war ich der festen Überzeugung, dass sowas damals einfach nicht möglich war – weil ich in meiner Jugend nie Frauen getroffen hatte, die diesen Schritt gegangen waren. Oder die man diesen Schritt gehen ließ. Wie viel Selbstermächtigung war überhaupt möglich?
Habt ihr Erfahrungen zu diesen Themen gemacht? Berichtet gern in den Kommentaren davon.
Cho Nam-Joo, Kim Jiyoung, Born 1982, OT: 82년생 김지영, 2016, aus dem Koreanischen ins Englische übersetzt von Jamie Chang, Scribner 2018.
Das Buch erscheint unter dem Titel „Kim Jiyoung, geboren 1982“ am 11. Februar 2021 auf Deutsch.
Der Roman wurde 2019 unter dem Titel „Kim Ji-young, Born 1982 (Originaltitel: 82년생 김지영)“ verfilmt.
Hallo Jana!
Tolle Rezension!
Ich habe vor kurzem die Leseprobe zu der deutschen Übersetzung gelesen und diese konnte mich jetzt nicht überzeugen. Vielleicht lag das auch an der Übersetzung selber, denn wie du das Buch beschreibst klingt es äußerst interessant.
Tja und nun weiß ich auch nicht. 🙂
Liebe Grüße
Diana
Hallo Diana,
danke für das Lob! Ich kann mir tatsächlich vorstellen, dass das Buch der Text nicht so gut wirkt, bzw. die Sprache zu gewollte rüberkommt. Selbst im Englischen hatte ich den schwer an etwas festzumachenden Eindruck, dass die Sprache nicht fürs Englische gemacht war. Vielleicht liegt es an der Sprache und Satzstruktur, die die Autorin verwendet, denn bei anderen aus dem Südkoreanischen übersetzten Büchern hatte ich diesen Eindruck noch nie. Vielleicht gibst du dem Buch eine Chance, weil dich die Thematik interessiert? Abbrechen geht ja immer noch. 🙂
Viele Grüße
Jana
Musste jetzt auf Anhieb an Die Vegetarierin von Han Kang denken. Da „rebelliert“ ja auch eine koreanische Frau auf ganz eigene Art.
Ja, das stimmt. Wobei ich „Die Vegetarierin“ als noch „abgedrehter“ empfand. Auf jeden Fall erregen in beiden Büchern Frauen Aufmerksamkeit, weil sie gegen die starren gesellschaftlichen Normen verstoßen.
Das trifft sich prima, dass du das Buch besprichst – vielen Dank für die Einblick! Ich habe davon nicht nur in deiner Liste der besten Bücher 2020 gelesen, sondern auch in zahlreichen anderen und es sagenhaft oft in Top-Listen auf Goodreads gesehen. Aber stets konnte ich mir keinen so richtigen Reim darauf machen.
Aber desto länger ich den Titel sehe, desto mehr habe ich den Eindruck, dass das schon mal verfilmt wurde in Korea, kann das sein? Die Bücher (und Filme) brauchen ja mitunter durchaus einige Zeug, bis sie zu uns schwappen. Leider.
Und das mit der Rolle der Frau … schwierig. Ich habe oftmals von anderen gehört, dass in der DDR die Mutterrolle viel angepriesen und unterstützt wurde. Aber alle Frauen in meiner Familie haben zu DDR-Zeiten gearbeitet. Ich meine sogar meine Oma hat sich etwas dazuverdient… . Generell ist mir auch in unserer ländlichen Gegend (meiner Heimat) nie das Bild der Hausfrau Und Mutter begegnet, die nicht arbeiten geht, weil Hausfrau und Mutter ihr Job ist. Sondern stets Frauen, die alle drei Rollen erfüllen (und damit so ihr Päckchen zu tragen haben).
Ich denke, das Buch wird nach dem Erscheinen auf Deutsch auch noch einmal für etwas Wirbel sorgen. Bei der englischen Version ist mir aufgefallen, dass ich mir beim Lesen ständig bewusst war, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Die Sätze und Wortwahl waren ungewöhnlich. Ich bin gespannt, ob das in der deutschen Version immer noch so durchkommt.
Der Roman wurde 2019 unter dem Titel „Kim Ji-young, Born 1982 (Originaltitel: 82년생 김지영)“ verfilmt. Bisher habe ich noch keine Version mit Untertiteln gefunden; aber ich hoffe, dass das nicht mehr allzu lange auf sich warten lässt.
Es ist ganz spannend und wertvoll für mich, deine Erfahrungen zu lesen. Seit ich hier „im Osten“ wohne, komme ich mir mit meiner Sozialisierung manchmal vor wie ein Alien, weil ich auf Ähnliches hier noch nicht gestoßen bin. Ich habe schon überlegt, inwieweit die religiöse Prägung eines Landstriches da eine Rolle spielt und ob Erfahrungen von Frauen dort mit der „westfälischen Prägung“ vergleichbar sind.
Dass es zu DDR-Zeiten (und heute sowieso) eine starke Doppelbelastung der Frauen gab/gibt und man das auch leicht aus den Augen verliert, wenn man den emanzipatorischen Aspekt der Berufstätigkeit in der DDR in den Blick nimmt, ist mir auch erst vor einiger Zeit richtig bewusst geworden. Bestimmt gibt es da auch Untersuchungen zu, aber das ist leider überhaupt nicht mein Fachgebiet. 😀