Was verbindet verbitterte Bauern auf dem sturmumtosten französischen Hochplateau und junge Party-People in Côte d’Ivoire? Auf jeden Fall das Internet. Aber wie passt das Verschwinden einer ortsansässigen Millionärsgattin hinein?
Zum Inhalt
Karg und hart ist das Leben auf dem Causse, dem französischen Hochplateau. Nur noch wenige Landwirte betreiben hier ihre Höfe. Einer von ihnen ist Joseph, der als einziger auch den Winter auf dem Berg verbringt und seit dem Tod seiner Mutter hauptsächlich mit sich selbst und seinen Schafen redet. Da überrascht, dass sich die Sozialarbeiterin, die regelmäßig nach den einsamen Landwirten sieht, sich ihm geradezu an den Hals wirft.
„Und du denkst bei dir, das ist kein Ort für einen allein, das ist kein Leben, das ist unmenschlich, und der Klumpen in deinem Bauch frisst dich auf.“
S. 77
Sucht Sozialarbeiterin Alice nur das schnelle Vergnügen und oder steht ihre Ehe mit Michel, der mittlerweile den Hofbetrieb von ihren Eltern übernommen hat, vor dem Aus? Das Paar redet kaum noch miteinander – schon gar nicht über das Verschwinden der Millionärsgattin Évelyne Ducat, über die man sich im Ort sowieso so manche Geschichte erzählt. Hat wieder einmal der Schneesturm ein Opfer gefordert, oder steckt einer der Bewohner dahinter?
Spannung und der Blick auf prekäre Milieus
„Nur die Tiere“ gibt Einblick in ein Milieu, das auf dem deutschen Buchmarkt bisher weitgehend unbeachtet blieb: Die langsam aussterbende französische Kleinbauernschaft. Bei Niel beherrschen Frustration und Einsamkeit diese gesellschaftliche Gruppe, deren Leben sich hauptsächlich auf dem eigenen Hof und im nächsten Dorf abspielt und für die Paris ganz weit weg ist. Fernab von Weinanbau und Savoir-vivre trotzen hier Viehwirte den immer noch harten Wintern und blicken mit Argwohn auf Großbauern und fremde Sommerurlauber. Meist ererbt, lässt Niel keinen Zweifel daran, dass das Schicksal als Kleinbauer oftmals kein selbstgewähltes ist.
„Die grauen gerupften Bäume an den Talhängen erinnerten mich an Gitterstäbe einer Zelle.“
S. 159
Sprachlich gekonnt verpackte Sozialkritik
Der spannende – und lange Zeit rätselhafte – Kriminalfall wird durch das sprachliche Geschick Colin Niels wunderbar abgerundet. Er erzählt die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven, wobei jede Figur einen an ihren jeweiligen Lebenshintergrund angepassten unverwechselbaren Ton hat.
„Und auf der anderen Seite lagen die sanfte Silhouette meiner Berge und ein paar ausgefranste Wölkchen, die den Gipfel zu suchen schienen wie ein Lamm das Mutterschaf.“
S. 17
Niels Roman lenkt den Blick auf gleich mehrere vergessene Gruppen: die am Rande des Prekären lebenden französischen Kleinbauern ebenso wie die immer noch unter den Folgen des Kolonialismus leidenden jungen Leute in Côte d’Ivoire. Einen erhobenen Zeigefinger sucht man dabei vergeblich: Niels Figuren sind keine Stereotype, sondern durch ihr Denken und Handeln fein charakterisierte Individuen. Deren Handeln verfolgt man als Leser mit Neugier und Unglauben zugleich.
Fazit
„Nur die Tiere“ ist ein klug konstruierter Krimi noir mit überraschender Auflösung und psychologischen Feinheiten. Daneben lernt man wie nebenbei Neues über soziale Milieus, die sonst wenig Beachtung erfahren. Eine klare Empfehlung.
Colin Niel, Nur die Tiere, OT: Seules les bêtes, aus dem Französischen von Anne Thomas, Lenos Verlag 2021, 286 S., 16€.
Lenos Verlag
Wer den Schweizer Lenos Verlag (zuletzt hier auf dem Blog mit dem Mayotte-Roman „Das grüne Auge“ von Nathacha Appanah) und insbesondere dessen Reihe „Lenos Polar“ noch nicht auf dem Schirm hat, sollte aufmerken. Hier erscheint eine wunderbare Übersetzung nach der anderen und insbesondere Krimi-Fans kommen abseits der üblichen skandinavischen Routen im verschneiten Kanada (Taqawan von Éric Plamondon) oder wie hier auf dem französischen Hochplateau mit der Reihe „Lenos Polar“ auf ihre Kosten.
Der Roman „Nur die Tiere“ von Colin Niel wurde 2021 unter dem Titel „Die Verschwundene“ verfilmt. Eine Kritik zum Film findet ihr bei Kriminalakte.org.
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