Der Titel von Annika Brockschmidts Sachbuch „Amerikas Gotteskrieger“ hat mich sofort angesprochen. Wer den Blog schon einige Zeit lang verfolgt, ist bestimmt schon auf den einen oder anderen Roman zum Thema „christlicher Fundamentalismus in den USA“ gestoßen. Eine Liste mit Literaturtipps findet ihr am Ende des Beitrags.
Inhalt
In „Amerikas Gotteskrieger“ beleuchtet Annika Brockschmidt verschiedene Facetten der Religiösen Rechten in den USA. Zu Beginn nimmt sie eine ausführliche begriffliche Einordnung und Abgrenzung vor:
„Christlicher Nationalismus und amerikanisches Christentum sind nicht dasselbe.“
S. 22
und
„Der Begriff ‚Christentum‘ bezeichnet hier eine ethnische Identität.“
S. 41
So wird schnell deutlich, dass es hier nicht um Religions-Bashing geht und das – auch, wenn der christliche Nationalismus in der republikanischen Partei seine Heimat gefunden hat – deren Anhänger nicht allesamt über einen Kamm geschoren werden dürfen (was bei nur zwei großen Parteien in den USA auch ein starkes Stück wäre). Vielmehr beschreibt Brockschmidt, warum der „christliche Nationalismus“ eine fast ausschließlich weiße, meist evangelikale Bewegung ist und was ihn ausmacht:
„Denn der Glaube daran, dass Verfassung und Unabhängigkeitserklärung göttlich inspiriert sind und sich damit in der Bedeutungshierarchie auf dem gleichen Level befinden wie die Bibel, ist einer der Grundpfeiler des Christlichen Nationalismus.“
S. 42
Schwangerschaftsabbrüche als Aufhänger – Roe v. Wade
Obwohl das Thema „Schwangerschaftsabbrüche“ nur einer von vielen Aspekten ist, den Annika Brockschmidt in „Amerikas Gotteskrieger“ beleuchtet, passt das Buch gerade nach der Überwerfung des Urteils durch den Supreme Court Roe v. Wade in die Debatte. Die Autorin arbeitet die Position christlicher Nationalisten zu dem Thema heraus; überraschend für mich war dabei, dass eine strikte Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen und eine rigorose „pro life“-Politik nicht immer schon zum Kernbestand republikanischer Überzeugungen gehört.
Meinung
Umfangreiche Auswahl aktueller Themen
Gelungen ist, dass Annika Brockschmidt keines der großen Themen der aktuellen (US-)Politik ausspart. Sie geht auf die Debatten um Schwangerschaftsabbrüche, Einwanderung, Rassismus, Feminismus, LGBTQ+, Homeschooling, Fernsehpriester und abstruse Verschwörungstheorien genauso ein wie auf die Einflussnahme der Religiösen Rechten auf US-amerikanische Wahlen und Trumps Beziehung zu Russland.
Die Autorin schafft es, von außen betrachtet völlig widersprüchliches Verhalten zu erklären und vermeintliche Paradoxien für die Leserinnen und Leser aufzuschlüsseln. So erklärt sie etwa wie die Religiöse Rechte sich „christlich“ nennen, keusches, „tugendhaftes“ Verhalten hochhalten und gleichzeitig die offensichtlichen Grenzüberschreitungen eines Donald Trump bejubeln kann.
Kommunikationsmechanismen erklärt
Einen kurzen Ausflug unternimmt Annika Brockschmidt auch in beliebte Kommunikationsstrategien der Religiösen Rechten. Als Bespiel nennt und erklärt sie das sog. „Dog Whistling“ (dt. „Hundepfeifen“), das Codieren von sprachlichen Begriffen durch verschiedene Akteure (etwa, wenn mit „Familie“ plötzlich nur noch die heteronormative Kernfamilie gemeint und die LGBTQ+-Community ausgeschlossen ist). Uneingeweihten Hörern kann so die tiefere Bedeutung einer vermeintlich unverfänglichen Aussage entgehen.
Aufmerksame Leser erkennen wieder, dass einige Kommunikationsstrategien mittlerweile auch in der deutschen Politik – in den deutschsprachigen sozialen Medien sowieso – verwendet werden. Dadurch, dass verschiedene rechte Gruppen viel Geld in mediale Kampagnen stecken und zu Großsponsoren republikanischer Präsidentschaftskandidaten werden, entwickeln sich Formate wie „Pure-Flix“ (evangelikales Netflix-Äquivalent) oder das sog. „National Prayer Breakfast“ (ein jährlich veranstaltetes Essen, bei dem die politische und wirtschaftliche Elite zum gemeinsamen Beten zusammenkommt).
Eine tiefere Kenntnis der immer wieder verwendeten Bibelschlagworte ist zum Verständnis der Kernaussagen nicht erforderlich. Es kann aber neben den erklärenden Worten der Autorin dabei helfen, die teils abstrusen Argumentationsketten der Religiösen Rechten besser als solche einordnen zu können.
„Für Barton ist illegale Einwanderung ein Verstoß gegen das biblische Mandat des Staates, das Eigentum seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen, während Gesetze, die zum Umweltschutz beitragen und beispielsweise globale Erwärmung eindämmen sollen, für ihn Verstöße gegen das Recht auf Herrschaft (Dominion) darstellen, das Gott den Menschen über die Erde erteilt habe.“
S. 37
Überfrachtung durch Querverweise
Als störend im Lesefluss und frustrierend für das Textverständnis wirkten die immer wieder eingestreuten Querverweise. So werden verschiedene Begriffe und Namen im Argumentationszusammenhang mehrmals ohne weitere Erklärung genannt, eine Erklärung folgte dann erst Kapitel später.
Kritik: Brockschmidt nicht in den USA vor Ort
Kritik, die kurz nach Erscheinen von „Amerikas Gotteskrieger“ im Netz kursierte, hielt Annika Brockschmidt vor, selbst nicht in die USA gereist zu sein und Zeitzeugen interviewt zu haben (FAZ-Artikel zur Debatte). Ich habe diese Kritik erst nach dem Lesen des Buches zur Kenntnis genommen und empfand Brockschmidts (Corona bedingtes) Vorgehen jedenfalls als ungewöhnlich – schon weil es mich persönlich gereizt hätte, die Personen, über die ich schreibe und auf deren Aussagen ich meine Argumentation stütze, wenn schon nicht zu interviewen, wenigstens einmal live zu erleben. Das Sachbuch „funktioniert“ aufgrund der fundierten Recherche und argumentativen Stärke auch ohne diese persönlichen Eindrücke; meiner Meinung nach hätten solche das Buch aber – und sei es in einem abschließenden Kapitel – bereichert und ausgewogener gestaltet. Hier findet ihr eine Stellungnahme von Annika Brockschmidt zur Kritik.
Voreingenommenheit und Quellenauswahl
Einige wenige Male hatte ich den Eindruck, dass vereinzelte Aussagen von Randgestalten der US-Politik passgenau für die Argumentation verwendet wurden, ohne, dass für mich als Leserin ersichtlich war, welche Rolle und Wichtigkeit den entsprechenden Personen zukommt. Einige Stimmen (#Blog1600Penn) deuten dies als fehlende Objektivität der Autorin. Soweit gehe ich nicht, da dieser Eindruck nicht überwiegt.
Darüber hinaus ist eine starke Tendenz erkennbar, möglichst viele Quellen und Puzzleteile unterzubringen. Zusammen mit den zahlreichen Querverweisen und dem Springen zwischen verschiedenen Protagonisten über zeitliche und geografische Grenzen mindert dies die Lesbarkeit und verwässert die Struktur.
Fazit
„Amerikas Gotteskrieger“ von Annika Brockschmidt ist ein dicht argumentiertes und detailreiches Sachbuch, das ein tieferes Verständnis für die US-amerikanische Politik von heute schafft. Aufgrund der Vielzahl von Quellen und Zitaten ist ein grundsätzliches Verständnis für und großes Interesse an US-Politik und Zeitgeschichte unbedingt erforderlich – andernfalls ermüdet das Lesen.
Mit ihrem Sachbuch trifft die Publizistin jedenfalls den Nerv der Zeit. In der Populärkultur boomt die Beschäftigung mit christlichem Fundamentalismus in den USA. Netflix nahm beispielsweise zuletzt die Dokumentationen „Pray and obey“ (dt. „Sei lieb – Bete und gehorche“, FLDS) und „Unser Vater – Dr. Cline“ (über einen Reproduktionsmediziner, der in die Nähe der „Quiverfull“-Bewegung gerückt wird) ins Programm.
Annika Brockschmidt: Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2021, 414 S., 16,50 EUR.
Wissenstipp!: USA, US-Gesellschaft, christlicher Fundamentalismus
Zur Autorin
Annika Brockschmidt (@ardenthistorian) spricht in ihrem Podcast „Kreuz und Flagge“ regelmäßig über fundamentalistische Gruppen und ihren Einfluss auf die politische Landschaft.
Andere Meinungen zu „Amerikas Gotteskrieger“
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