Hidden Valley Road. Im Kopf einer amerikanischen Familie von Robert Kolker ist eines dieser Bücher, die einen mit einem richtig unguten Gefühl zurücklassen, weil sie eine wahre Geschichte, die faszinierend und beängstigend zugleich ist, erzählen.
Zum Inhalt
Der Wissenschaftsjournalist Robert Kolker schildert den über mehrere Jahrzehnte untersuchten Fall der US-amerikanischen Familie Galvin. Die Galvins – Vater Don arbeitet auf einem US-Militärstützpunkt, Mutter Mimi ist Hausfrau – haben zwölf Kinder. Die ersten zehn Sprösslinge sind Jungen, die letzten beiden Mädchen.
In Hidden Valley Road wird offenbar, dass der nach außen hin harmonische Familienalltag, geprägt von Kirchenbesuchen und den sportlichen Erfolgen der Kinder sich nach innen ganz anders darstellt. Er ist geprägt von Gewaltexzessen und Missbrauch durch die ältesten Brüder. Nach und nach erkranken sechs der zehn Brüder an Schizophrenie. Neben den ständigen Sorgen um die Organisation von Medikamenten, Therapieplätzen und Arztbesuchen begibt sich die Familie fast in Lauerstellung: Wen von ihnen trifft es als nächsten?
Meinung
Wie ein Thriller
Was sich nach einer arg übertriebenen Thriller-Handlung anhört, ist der Tatsachenbericht einer der weltweit Aufsehen erregendsten Studien über die psychische Erkrankung Schizophrenie. Der Fall der Familie Galvin aus der Hidden Valley Road bot aufgrund der auffälligen familiären Häufung von Schizophrenie Forschenden die Möglichkeit, die Krankheit auch im Hinblick auf ihre genetische Prädisposition und Vererbbarkeit zu untersuchen.
Robert Kolker schafft es, dieses Stück Wissenschaftsgeschichte derart mit der Familiengeschichte der Galvins zu verweben, dass man streckenweise das Gefühl hat, einen Roman zu lesen. Zunächst beschreibt er das Kennenlernen der Eltern Mimi und Don und die nach und nach ankommenden Kinder sowie erste Anzeichen für das Auftreten der Erkrankungen bei den Ältesten. Dabei stellt er die Entwicklung der Schizophrenie-Forschung, die sich jahrzehntelang zu der These verstieg, der Ausbruch der Krankheit hänge mit einem dominanten Erziehungsstil der Mutter zusammen, dar. Grabenkämpfe zwischen verschiedenen Lagern und die Probleme der Forschungsfinanzierung spart Kolker nicht aus.
Der Bericht wirkt dabei zu keinem Zeitpunkt trocken, denn Robert Kolker interviewte für Hidden Valley Road noch lebende Mitglieder der Familie, wobei sich insbesondere die beiden jüngsten Schwestern für die Erforschung der Erkrankung einsetzen und versuchen, ihren Brüdern eine Hilfestellung zu geben.
Schizophrenie als Familienschicksal
Hidden Valley Road trägt dazu bei, ein realistisches Bild, der medial häufig viel zu unklar und inflationär gebrauchten Diagnose „Schizophrenie“ zu zeichnen. Anhand der – leider vielfältigen – Beispiele in der Familie Galvin zeigt Kolker, wie unterschiedlich und in welchen Formen sich erste Anzeichen der Erkrankung bis hin zu ihrer vollen Ausprägung zeigen. Dabei romantisiert er an keiner Stelle, sondern stellt vielmehr fast schmerzhaft für den Leser dar, wie stark die Erkrankung das Leben der Betroffenen und Angehörigen beeinträchtigt. Ein eigenständiges oder unbehelligtes Leben ist für keinen mehr möglich. Gerade die jüngsten Mädchen, die die geschilderten Gewaltexzesse und den Missbrauch durch und an ihren Brüdern als Kinder erlebten, werden stark hiervon geprägt.
Daneben schildert Kolker auch eindringlich, wie die Eltern versuchen, mit der Situation umzugehen. Dies reicht von einem emotionalen Rückzug und außerehelichen Affären bis hin zur völligen Verdrängung und dem Aufrechterhalten eines Scheins von Normalität. Die Überforderung der Familie mit der Situation ist auf jeder Seite zu spüren.
Kritik: Missbrauch als Story-Element
Einen kleinen Kritikpunkt an Hidden Valley Road kann ich mir an dieser Stelle allerdings nicht verkneifen. Nach der ausführlichen, an vielen Stellen sehr intimen Schilderung der Krankheitsgeschichte und des Verhaltens der Familienmitglieder, empfand ich es als unangemessen, die Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch als eine Art Story-Element ganz ans Ende des Romans zu packen. Dies hätte es bei der ansonsten in vielen Teilen sachlichen – wenn auch ihrer Art nach sehr amerikanisch-saloppen – Schilderung der Familiengeschichte nicht gebraucht und erschien fast als Art Taschenspielertrick.
Fazit
Hidden Valley Road. Im Kopf einer amerikanischen Familie ist ein so verstörender wie faszinierender Tatsachenbericht über die Häufung von Schizophrenie und deren Auswirkung auf das Familienleben. Es trägt dazu bei, die Krankheit, Betroffene und Angehörige besser zu verstehen und liest sich dabei so spannend wie ein Thriller. Empfehlung.
Robert Kolker, Hidden Valley Road. Im Kopf einer amerikanischen Familie, OT: Hidden Valley Road. Inside the Mind of an American Family, aus dem Amerikanischen von Henning Dedekind, btb 2021, 512 S.
Wissenstipp: Schizophrenie, Geschichte der Schizophrenieforschung
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Hab ich auch auf der Liste. Ich weiß bisher gar nicht viel über Schizophrenie.
Das lohnt sich sehr. Ich hatte vor dem Buch auch nur eine ganz vage Vorstellung von der Krankheit und es war spannend zu lesen, wie unterschiedlich (auch, was ihre zerstörerische Kraft angeht), sie sich schon allein in dieser einen Familie zeigt. Bin gespannt, was du davon halten wirst.