Kurz nach der Wende nutzt das junge Paar Ella und René die Gunst der Stunde, um Frankreich zu entdecken. Ziellos fahren sie in ihrem alten Wartburg umher und stranden schließlich in einem alten Château bei Bordeaux. Die Eigentümerin Madame de Violet empfängt sie gemeinsam mit dem einzigen ihr verbliebenden Angestellten Vincent. Ella und René sind die letzten Hotelgäste vor dem Verkauf des Schlosses. Doch die traumhafte Kulisse vor den Weinbergen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Beziehung der beiden heftig kriselt.
Als dann der illustre Sohn des Hauses, Alain, René auf eine Lustreise nach Paris mitnimmt und Ella im verfallenden Adelssitz zurückbleibt, steht der Bruch unmittelbar bevor. Während René in die Pariser High Society eintaucht, beschäftigen Ella die Geheimnisse und Liebschaften im Hause de Violet.
Meinung
„Die Paradiese von gestern“ ist mit 552 Seiten ein eher seitenstarker Roman. Das Aufeinandertreffen dreier Welten – DDR, französischer Adel und Pariser Schickeria – birgt für die Geschichte großes Potenzial, das auch an vielen Stellen ausgeschöpft wird. Das Zeitgeschehen als Hintergrundrauschen für eine Liebesgeschichte zu nehmen, birgt jedoch auch Gefahren, die der Roman nur teilweise einfangen kann. So gelingt es kaum, die parallellaufenden Handlungsstränge auszubalancieren und die Bedeutung des Zeitgeschehens in beiden gleichermaßen zum Ausdruck zu bringen. Die Figurenzeichnung gelingt teilweise aufgrund der im Kopf des Lesers bereits verankerten Bilder (die alte Gräfin, der stets korrekte Butler) gut, andernorts scheitert sie an ihrer sich selbst auferlegten Komplexität.
Die Figuren
Der Roman dreht sich hauptsächlich um das aus der ehemaligen DDR angereiste Liebespaar Ella und René. Wichtige Nebenfiguren sind die alte Gräfin, ihr Sohn Alain und der Butler Vincent. Während letztere teils Stereotypen abbilden und damit für den Leser leicht zugänglich sind, bleibt die Zeichnung der Protagonisten von „Die Paradiese von gestern“ René und Ella bis zum Ende unentschlossen. Mario Schneider bemüht sich nachvollziehbar, sie als vielschichtige Charaktere dazustellen, lässt dabei aber so viele teils gegensätzliche Hinweise auf charakterprägende Merkmale fallen, dass es dem Leser schwerfällt, die Beschreibungen zu runden Figuren zusammenzufügen.
René
Die Beschreibung Renés kann sich zwischen „Stoffel vom Lande“ und Feingeist nicht richtig entscheiden. Auf der einen Seite schlurft René als Prolet vom Dienst mit abgelatschten Turnschuhen und Vokuhila auf Partys der Pariser Schickeria und ist stolz auf sein „einfaches und ehrliches Leben“ in der DDR; auf der anderen Seite ist er durchtrainiert, liest die Klassiker der französischen Literatur und hat gerade sein Physikstudium abgebrochen, um lieber klassische Sinfonien zu schreiben – was für den Verlauf der Handlung allerdings keinerlei Bedeutung hat. Hier hat man den Eindruck, der Autor wollte seiner eigenen Kompositionserfahrung wenigstens einen winzigen Platz in „Die Paradiese von gestern“ einräumen.
Die völlige Trennung von Bildung und das, was man im weitesten Sinne als „Habitus“ beschreiben könnte, wirkt insbesondere dadurch irritierend, dass die Figur René stellenweise ohne Trotz große Selbstgerechtigkeit an den Tag legt:
„[…] und dass dieser modernen Gesellschaft hier nichts anderes übrigblieb, als Menschen nach ihren äußeren Erscheinungen zu beurteilen.“
S. 373
An anderen Stellen weicht vermeintliche moralische Überlegenheit selbstverleugnender Larmoyanz:
„Er kam sich im schillernden Paris wie eine graue, nichtssagende Existenz vor, wie eine einfache Fliege, die sich verirrt hatte, in das Land der bunten Schmetterlinge und Vögel.“
S. 373
Ella
Schneider zeichnet Ella als „schwierige Künstlerin“, die gleichsam aber als unbedarftes Mädchen aus der DDR ihr Herz auf der Zunge tragen soll. Ihr gelingt es nicht, ein einziges Buch zu beenden, dabei spielt sie auf der Bühne wie selbstverständlich die großen Klassiker. Unnötigerweise bricht sie einen philosophisch-theologisch aufgeladenen Konflikt nach dem anderen vom Zaun, ohne mit Glaube oder Religion etwas anfangen zu können. Ihr unstetes Gemüt wird mit der Abwesenheit ihrer Eltern an langen Kindheitsabenden erklärt. Sie rollt sich nackt durch die Dünen, während sie dann sehr verschämt auf den vierzig Jahre älteren Butler reagiert, sich aber gleichzeitig beim Abendessen Blickduelle mit der einschüchternden Gräfin liefert.
Die Figur äußert im Laufe des Romans bestimmt, dass sie keine eignen Kinder will, kokettiert dann aber hunderte Seiten später gegenüber René:
„Mein Herr, es würde mich nicht wundern, wenn sie mir da am Meer ein Kind gemacht hätten und ich einen Heiligen zur Welt bringe.“
S. 536
Dieser Satz fasst die Schwierigkeit der Figurenzeichnung gut zusammen: Die Protagonistin will keine Kinder und hat mit Religion absolut nichts am Hut – solche Sätze lassen die Figuren unglaubwürdig werden.
Die Nebenfiguren
Die übrigen Figuren entsprechen weitestgehend den Stereotypen, als die sie zu Beginn eingeführt werden: Die disziplinierte, alternde Gräfin, die ihre wahren Gefühle im Laufe der Jahrzehnte vergraben hat; der stets korrekte Butler, der seine Gefühle für die Gräfin im Zaum hält; der schnöselige Sohn des Hauses, der als gelangweilter Playboy seine traurige Kindheit mit Drogen und Alkohol betäubt.
Politik und Systemkritik
Das Setting von „Die Paradiese von gestern“ schafft die Schwierigkeit, dass an vielen Stellen ein unmittelbarer Vergleich zwischen den politischen Systemen der DDR und Frankreichs gezogen werden kann, dieser Umstand die Figuren prägt, aber für die eigentliche Handlung nicht von Bedeutung ist. Dieser Schwierigkeit begegnet Mario Schneider auf zwei – sich völlig entgegenstehende – Arten: Auf der einen Seite legt er seinen Figuren fast seminarreife Kurzvorträge über ihre jeweiligen politischen Systeme in den Mund, auf der anderen stellt er sie als völlig unpolitisch und vom Zeitgeschehen unbeeinflusst dar:
„Und als einer von Ellas Freunden bemerkte, dass sie kaum noch in der Stadt zu sehen wären und fragte, was sie beide denn die ganze Zeit tun würden, da hatte Ella beschwingt geantwortet: ‚Sex, wir haben Sex.‘ Die friedliche Revolution ging währenddessen draußen ohne sie weiter.“
S. 343
An diesen Stellen wird das Problem mit dem – zugegebenermaßen frischen – Rahmen des Romans sehr deutlich: Das Zeitgeschehen bildet den Hintergrund der Handlung, ist für deren Voranschreiten aber nicht von Bedeutung. Hier spielen traditionelle Elemente wie Konflikte innerhalb der Liebesbeziehung, alte Geheimnisse und drohender Bankrott eine Rolle. Können Figuren aus der DDR in Frankreich einfach nur ein Liebespaar sein? Der Roman beantwortet diese Frage durch sein unstetes Schwanken zwischen „politisch“ und „unpolitisch“ jedenfalls nicht mit „Ja“.
Die Dialoge
Der aus Sachsen-Anhalt stammende Autor Mario Schneider arbeitet auch als Regisseur, Filmkomponist und Fotograf. Daher verwundert es nicht, dass viele Passagen in „Die Paradiese von gestern“ kleine Filmszenen vor dem Auge des Lesers/der Leserin entstehen lassen. Insbesondere die Abschnitte, in denen ein Wehrmachtsoffizier sich im Château zum Wein einlädt oder René beim Pariser Herrenausstatter ein Makeover bekommt, hätten genauso verfilmt werden können. Diese starke Bildhaftigkeit trägt über einzelne Dialoge, die ungleich schwächer ausfallen, teilweise hinweg.
Insbesondere die Dialoge des Liebespaares René und Ella erinnern an Filme der Novelle Vague. Allerdings nicht im besten Sinne, denn auch sie wirken wenig pointiert, künstlich in die Länge gezogen und mit für die Leser nicht immer nachvollziehbaren Konflikten beladen. (Ich gebe zu, ich habe meine Probleme mit Godard-Filmen). An vielen Stellen wird abstrakt und forciert über die Liebe an sich gesprochen – der Roman spielt ja schließlich zur Hälfte in Paris – und am Ende ist auch keiner schlauer.
Auch, dass die Protagonisten einige Male auf Gott zu sprechen kommen, ohne religiös zu sein, dass Ella sogar Lourdes besucht, man der Beschreibung aber anmerkt, dass sie die religiöse und emotionale Bedeutung des Ortes nicht einordnen kann, fällt aus dem Rahmen, weil für die Handlung und Figurenentwicklung keine Bedeutung erkennbar ist. Ob hier eine Recherche in Lourdes vor Ort eingearbeitet wurde oder der Autor Ella mehr eigene Passagen im Roman zugestehen wollte, lässt sich nur mutmaßen.
Die Handlung
Hinsichtlich der verarbeiteten Ideen in „Die Paradiese von gestern“ wirkt Ellas Geschichte – meist bewegt sie sich im räumlichen Dreieck zwischen Zimmer, Pool und Küche – ungleich handlungsärmer als die von René, der in Paris eine filmreife Episode nach der anderen hat. Natürlich könnte man sagen, dass Ella im Gegensatz zu René eher eine innere Entwicklung durchmacht, doch dafür wirken die Gespräche zwischen ihr und Vincent in der Küche zu vage. Mit der älteren Gräfin, die ihr in Sachen Lebenserfahrung eine Menge voraushat, hat sie gleich tagelang gar nichts zu tun. Dabei wäre diese – wie beim gemeinsamen Abendessen angedeutet – eine spannende Sparringspartnerin gewesen. Für den Roman eine verpasste Chance.
Durch die kurzen kryptischen Telefonate, mit denen Ella René nach einem aus dem Nichts fabrizierten Konflikt auf Abstand hält, wirkt die anhaltende Trennung der beiden Handlungsstränge künstlich in die Länge gezogen.
Verpuffte Ideen
Immer wieder wirft Schneider Aspekte, die für den weiteren Verlauf der Geschichte und die Figurenentwicklung keine Rolle spielen, auf: Die Andeutung, dass die Figur Alain bisexuell sein könnte; der Rückzug der adligen Gesellschaft von den de Violets; dass René konzertreif Klavier spielen kann und ein Kompositionsstudium plant; dass Vincent das Dorf nicht mehr besucht; dass René kurz in Kontakt mit einem Bewohner einer Banlieue kommt. Alle diese Ideen werden eingestreut, aber nicht ausgearbeitet und wirken daher wie störende lose Fadenenden im Handlungsmuster.
Wichtige Botschaften
An vielen Stellen hätte Mario Schneider dem Leser mehr zutrauen können. Gerade gegen Ende von „Die Paradiese von gestern“ fühlt man sich doch arg an die Hand genommen, damit die Botschaften des Romans auch ja eindeutig ankommen:
„Beide schwiegen wieder. Sie begannen zu begreifen und fühlten, dass dieses Gespräch, welches sie gerade führten, das wichtigste ihres Lebens war.“
S. 525
und
„Solche Menschen gab es nicht in seiner Stadt, ja, er war sich sicher, dass man nicht einen von ihnen in dem Land, aus dem er kam, hätte finden können. Er nahm an, dass nur der goldene Westen derartige Charaktere formen konnte, und er empfand in der Vielfalt dieser Individuen den unerschöpflichen Reichtum dieser neuen Welt.“
S. 470
Fazit
„Die Paradiese von gestern“ von Mario Schneider watet mit einem frischen Setting und Figuren mit Wiedererkennungswert auf. Doch wegen des konstruiert wirkenden Hauptkonfliktes und der Unausgewogenheit der beiden Handlungsstränge, aus der einige Längen resultierten, konnte mich der Roman nicht überzeugen.
Mario Schneider, Die Paradiese von gestern, Mitteldeutscher Verlag 2022, 552 S.
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