Joe Wilkins: Der Stein fällt, wenn ich sterbe (2023)

Joe Wilkins Der Stein fällt, wenn ich sterbe„Der Stein fällt, wenn ich sterbe“ von Joe Wilkins fügt sich in die lange Reihe von Country-Noir-Romanen hier auf dem Blog ein. Wilkins beschreibt aus verschiedenen Perspektiven den Mikrokosmos der Kleinstädte Colter und Delphi sowie verstreuter Farmen in den Bull Mountains, Ausläufern der Rocky Mountains im US-Bundesstaat Montana.

Inhalt

Das Collegestudium abgebrochen, die Mutter kürzlich verstorben, der Vater als flüchtiger Mörder in den Bull Mountains verschollen: Wendell Newman versucht trotz allem, sich rechtschaffen mit einem Job beim örtlichen Großrancher über Wasser zu halten. Als das Jugendamt dann unverhofft den achtjährigen Sohn seiner drogenabhängigen Cousine in seine Obhut gibt, findet sich Wendell in einer Vaterrolle wieder, die er ebenso gewissenhaft wie unbeholfen ausfüllen will. Doch oft muss er rätseln, was der Kleine braucht, denn der Junge spricht kein Wort.

Gillian ist als Lehrerin nah dran an den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit, Alkohol- und Drogenmissbrauch. Für ihre Schützlinge engagiert sie sich, indem sie den Eltern ins Gewissen redet, um wenigstens den einen oder anderen Schüler bis zum Schulabschluss in der Schule zu halten. Doch die Feindseligkeit ihrer Gesprächspartner gegenüber staatlicher Bildung und staatlichen Strukturen im Allgemeinen reißt bei ihr alte Wunden auf. Denn es war ein selbsternannter „Freistaatler“, der ihren Mann erschoss und sie allein mit ihrer Tochter Maddy zurückließ. Diese wiederrum sucht im Rahmen einer Wohltätigkeitsaktion den Kontakt zu Wendell, um dessen Mündel zu unterstützen.

„Sie redete jetzt mit Brian, dem Stiefvater des Jungen, und mit allen anderen selbstermächtigten, unwissenden, gewalttätigen Männern da draußen in den Bergen, die den ganzen Osten Montanas gewissermaßen für sich beanspruchten , um damit zu tun, was sie wollten, und dabei geflissentlich vergaßen, dass man ihren Urgrossvätern das Land überhaupt erst geschenkt hatte; dass es ihre Urgroßväter waren, die die Dürren herbeigeführt hatten; dass ihre Grossväter und Väter die Flüsse vergiftet und Wapiti, Gabelbock und Felsengebirgshuhn beinahe ausgerottet hatten und dass die Bundesregierung bei jeder Etappe […] eingeschritten war, um für diesen lächerlichen Way of Life aufzukommen, der ihnen so heilig war.“

S.88

Über all dem schwebt unheilvoll eine angekündigte Wolfsjagd, zu der sich militante „Freiheitskämpfer“ zusammenfinden, um sich „ihr Land zurückzuholen“ und Widerstand gegen staatliche Einflussnahme zu demonstrieren.

Meinung

„Der Stein fällt, wenn ich sterbe“ ist eine inhaltlich sehr runde Geschichte. Figuren, die am Ende von ihrer Vergangenheit eingeholt werden, alle losen Fäden werden zusammengeführt – passt. Doch gerade beim Showdown in den Bull Mountains fügt sich alles ein wenig zu gut. Figuren laufen sich passenderweise in stockdunkler Nacht mitten in der Wildnis über den Weg, Verletzungen verhindern ein Weiterkommen gerade dann, wenn es für den Verlauf der Geschichte notwendig ist und schwer nachvollziehbare Unwissenheit über Vergangenes ermöglicht einzelne Handlungsstränge überhaupt erst. Die Handlung wirkt daher gegen Ende stark konstruiert.

Wahl der Erzählperspektiven

Mit der Wahl der beiden völlig unterschiedlichen Erzählperspektiven gelingt ein Kunstgriff. Die Figuren Wendell und Gillian stammen beide aus Montana, sind also mit den Eigenheiten der dortigen Bewohner vertraut. Doch während Gillian durch Studium und Job noch andere Orte kennengelernt hat, durch Zeitungs- und Nachrichtenlektüre die Geschehnisse um sich herum auch politisch einordnen kann, gelingt es Wendell nicht, diese (teils erklärende) Vogelperspektive einzunehmen. Sein Handeln wird daher nicht von Buchwissen geleitet, sondern ergibt sich unmittelbar aus seinem persönlichen Rechtsempfinden und seinen Moralvorstellungen. Seine Perspektive ermöglicht zudem den Blick auf den Druck, der auf ihn als (männlichen) potenziellen Mitverschwörer ausgeübt wird.

Durch das Einstreuen von Tagebucheinträgen des in den Bull Mountains verschollenen Mörders Verl ermöglicht Wilkins einen Blick in den Kopf eines selbsternannten militanten Freiheitskämpfers. Was man dort findet, ist reichlich verworren, geprägt von einem irgendwie gearteten „Früher war alles besser“ und „die Welt behandelt mich ungerecht“ gepaart mit einem religiösen Unterton. Die kruden, oft nicht stringent geführten Gedankengänge betont Wilkins passenderweise durch die Mündlichkeit der Sprache und fehlende Interpunktion.

Kenntnisreiche Naturbeschreibungen

Joe Wilkins‘ sachkundigen Beschreibungen merkt man seine Herkunft aus Montana an. Wie nebenbei lässt er Pflanzen- und Tiernamen einfließen (die dankenswerter Weise in einem ausführlichen Anhang ausgewertet werden), nennt Entfernungen und Namen von Bergkuppen, sodass beim Lesen vor dem inneren Auge ein rundes Bild der Landschaft und der Kleinstädte entstehen kann. Die Bull Mountains bleiben dabei aber stets Kulisse der Handlung und treten nicht, wie etwa die Flora und Fauna in Owens „Der Gesang der Flusskrebse“ prominent in den Vordergrund.

Aktualität politischer Entwicklungen

Joe Wilkins greift mit der Beschreibung militanter „Widerstandskämpfer“ und Verschwörungsgläubigen natürlich den jüngsten Part Zeitgeschichte auf, als Anhänger Donald Trumps in das US-amerikanische Kapitol eindrangen und die Größe und Vielzahl staatsfeindlicher Strömungen erstmals der Weltöffentlichkeit offenbar wurde. Wilkins „Freistaatler“ sind regional vernetzt, ihre Organisation geht aber über die rein lokale Ebene weit hinaus, die Rekrutierung erfolgt zeitgemäß über das Internet. Er nennt eine Handvoll Bewegungen namentlich, auch der ehemalige US-Präsident Barack Obama sowie einige Naturschutzgesetze werden als Steine des Anstoßes genannt. Der ehemalige republikanische Präsident Donald Trump taucht dagegen namentlich nicht auf – was als Fingerzeig verstanden werden darf.

Fazit

Joe Wilkins‘ Roman „Der Stein fällt, wenn ich sterbe“ greift die Problematik der ideologischen Abschottung und Radikalisierung einzelner Gruppen in den ländlichen Teilen der USA auf und verbindet sie mit einer Geschichte, die gegen Ende für meinen Geschmack zu viele Zufälle kennt.


Joe Wilkins, Der Stein fällt, wenn ich sterbe, OT: Fall Back Down When I Die, 2019, aus dem Amerikanischen von Irma Wehrli, Lenos 2023.

Weitere Meinungen zu Joe Wilkins‘ Der Stein fällt, wenn ich sterbe

Literaturblog Sabine Ibing
Kaliber .17 Krimirezensionen

Country Noir aus Montana
Weitere Romane aus der Reihe Lenos Polar hier auf dem Blog

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