[Roman] Tess Gunty: Der Kaninchenstall (2023)

Der Kaninchenstall Tess GuntyIn einem heruntergekommenen Wohnblock mit absurdem Kaninchendekor leben sie dicht beieinander: Ängstliche, Verzagte, Hoffnungslose und klinisch Auffällige. Mittendrin eine WG von drei ihren Pflegefamilien entwachsenen jungen Männern, die sich liebestrunken um die intelligente Blandine versammelt haben. Doch die hat sich christlichen Mystikerinnen zugewendet und will nach einer Affäre mit ihrem Lehrer sowieso nichts mehr von zwischenmenschlichen Beziehungen wissen.

Meinung
Ambitionierte Erzähltechnik

Was in der Inhaltsbeschreibung schräg klingt, fügt sich in dem über 400 Seiten starken Roman unter Verwendung vieler Perspektivwechsel und zusammenlaufender Handlungsfäden durchdacht ineinander. Lange fragt man sich, was der Tod eines gealterten US-amerikanischen Kinderstars mit den Menschen in der fiktiven Stadt Vacca Vale zu tun hat oder wie die Mutter, die Angst vor den Augen ihres Säuglings hat, zu den restlichen Figuren passt. Doch nach und nach finden die Charaktere räumlich und auf Handlungsebene zusammen.

Zwar löst Tess Gunty das anfänglich wirr-gesponnene Knäuel an Handlungsfänden am Ende auf, doch einige Zusammentreffen wirkten arg erzwungen. So steht das gut getimte Hineinplatzen der Figur Moses in die Vierer-WG eher einem runden Abschluss, als dass es tatsächlich der Handlung dienlich gewesen wäre.

Popkulturelle Anspielungen

Tess Gunty gelingen popkulturelle Anspielungen so mühelos, dass ich beim Lesen ein ums andere Mal breit grinsen musste. Kennt ihr, dass, wenn man Anspielungen auf Internet- und Popkultur anmerkt, dass der Autor oder die Autorin wahnsinnig viel Mühe in die Recherche gesteckt haben und all ihr Wissen vermeintlich nebenbei einfließen lassen wollen? Unter Umständen liest sich dabei alles so bemüht, dass man cringt. Tess Gunty ist die erste Autorin seit langer Zeit, der man beim Schreiben abnimmt, dass Begriffe wie Meme und ASMR zu ihrer Alltagssprache gehören.

Hildegard von Bingen und der Leuchtmensch

Gerade deshalb wirkte die Faszination ihrer Protagonistin für die christlichen Mystikerinnen um Allgemeinen und Hildegard von Bingen im Besonderen auf mich während des gesamten Romans etwas künstlich. Man merkt der Wahl dieses Charakterisierungselementes den vorangegangenen gedanklichen Prozess noch sehr stark an: Die Protagonistin ist intelligent, deshalb muss sie sich für irgendetwas Tiefsinniges, Besonderes interessieren, am besten etwas mit alten Büchern. Es muss auch abgefahren und deswegen interessant sein, am besten auch einen feministischen Touch haben … bingo, christliche Mystikerinnen!

Erstaunlicherweise kam der noch verrücktere Drang der Figur Moses, nachts mit Leuchtmitteln eingeschmiert sorgsam ausgewählte Opfer zu erschrecken, natürlicher daher, weil das Ausmaß dieser selbstgewählten „Erkrankung“ erst nach und nach offenbar wurde (schwere Kindheit, Betreiben eines Blogs zum Thema). Wie großartig, den „Leuchtmensch“ aus Hildegard von Bingens Schriften derart wörtlich ins Heute zu übertragen!

Bei der Protagonistin wird nur vage angedeutet, dass das Interesse für das Leiden der Mystikerinnen möglicherweise aus eigenen Missbrauchserfahrungen herrührt. Ein Entwicklungsprozess findet hier aber nicht statt, Hildegard von Bingen ist von Beginn an stark präsent.

Themenvielfalt und Hyperfokus

Tess Gunty greift vor dem Panorama einer sterbenden Stadt im Rost Belt enorm viele verschiedene Themen auf: das Fürsorgesystem der USA, Machtgefälle in Lehrer/Schüler-Beziehungen, die Unterschiedlichkeit von Lebensentwürfen und die aus allen resultierende Einsamkeit, Eltern-Kind-Beziehungen, Feminismus, Umweltschutz, Ruhm, Reichtum, Liebe, Erwachsenwerden. Einige werden nur angerissen, andere durchziehen den gesamten Roman.

Die Behandlung der Themen schwankt stetig zwischen einer eher distanzierten Vogelperspektive und einer hyperfokussierten Betrachtung. So werden die drohende Umweltzerstörung und die Gedanken der Stadtbewohner eher allgemein abgehandelt, die Gedanken und Ängste einer jungen Mutter erhalten dagegen viel Raum und Detailtiefe.

Meisterhaft gelingt auch die präzise Beschreibung all der kleinen Unannehmlichkeiten und Störgefühle im Alltag, etwa das Unwohlsein, wenn man auf Geschenke seiner betagten Tante hin keine Dankeskarte schreibt und eigentlich nur den Zeitpunkt abwartet, an dem es eh zu spät dafür ist, um sich dann zu schämen.

Diese Passagen machen die Gefühle der Figuren unheimlich nachempfindbar. Die Figuren sind trotz aller Spleens relatable und knüpfen damit an gekonnt erstellte Instagram-Posts, Short Reels oder Tik-Tok-Videos an.

Fazit

Tess Guntys „Der Kaninchenstall“ zeichnet das Porträt einer sterbenden Stadt unterhaltsam, frisch und mit einem großen Aufgebot an skurrilen Figuren. Ganz nah dran am Zeitgeist und eine Empfehlung für alle, die sich durch viele Perspektivwechsel nicht abschrecken lassen.


Tess Gunty, Der Kaninchenstall, OT: The Rabbit Hutch, aus dem Amerikanischen von Sophie Zeitz, 416 S., Kiepenheuer&Witsch 2023.

Weitere Meinungen zu „Der Kaninchenstall“

Zeichen und Zeiten
Lust auf Literatur
Schreiblust Leselust

Mehr Bücher über Frauen in psychischen Ausnahmesituationen

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Verwandte Beiträge

Beginne damit, deinen Suchbegriff oben einzugeben und drücke Enter für die Suche. Drücke ESC, um abzubrechen.

Zurück nach oben