Julia Kohli schreibt in Das Leben ist die grösstmögliche Ruhestörung die unterhaltsame Geschichte einer einsamen Schweizer Kunstmäzenin.
Inhalt
In Julia Kohlis Roman „Das Leben ist die grösstmögliche Ruhestörung“ begleiten wir die 58-jährige Matylda, die nach der Scheidung von ihrem Mann mit einem großen Vermögen dasteht. Das Geld will sie loswerden und vergibt deshalb Stipendien an mittellose Künstlerinnen und Künstler. Ansonsten verbringt sie ihre Zeit mit Streifzügen durch die Züricher Innenstadt oder der Jagd nach Kunstschätzen. Was von außen wie das perfekte Leben aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Desaster. Matylda kämpft mit Magersucht und fällt im Laufe des Romans mehrmals in Ohnmacht. Ihre Wohnung verlässt sie nur noch widerstrebend und meist im Schutz der Nacht. Geplagt von Erinnerungen aus der Vergangenheit begibt sie sich in fast völlige soziale Isolation.
Meinung
Verbindung zur Figur
Kann man sich mit einer Figur, mit der man auf den ersten Blick absolut nichts gemein hat, identifizieren? Julia Kohli macht es der Leserin durch den immer wieder aufblitzenden Humor ihrer Figur leicht. Matylda ist intelligent, selbstironisch, manchmal sarkastisch und hält ihr Umfeld – wenn sie sich denn entscheidet, ihre Wohnung zu verlassen – ganz schön auf Trapp. Fast hält man vor Unwohlsein die Luft an, wenn sie aus eigener Unzufriedenheit heraus Streit mit einem Betrunkenen in der Warschauer Tram anfängt oder den Silvesterabend ihrer Freundin völlig torpediert.
„Du bleibst schön hier“, sagte ich in einem herrischen Ton, der mir selbst fremd war, „du kleine Besserwisserin hast dein ganzes Leben Scheisse gebaut, deinen Freund gestalkt, du hast gestohlen, gelogen und deiner Mutter das Leben zur Hölle gemacht, kein bisschen Respekt hast du verwöhnte Göre, weder vor deiner Mutter noch vor mir. Du hast keine Ahnung, wie es ist, in Armut aufzuwachsen.“
S. 92
Nicht völlig nachvollziehbar bleibt für mich Matyldas ambivalente Einstellung zu ihrem Vermögen. Auf der einen Seite will sie es loswerden, investiert es in Künstler, die sie nicht einmal für besonders begabt hält. Sie spricht abfällig über das Reichsein, erinnert sich aber an ihren Exmann, von dem das Geld stammt, nicht mit einer Negativität, die ihre Einstellung zum aus der Scheidung gewonnenen Vermögen erklärt. Auch ihr Aufwachsen in Armut verklärt sie nicht. Auf der anderen Seite hat sie sich an die Annehmlichkeiten ihres Reichtums gewöhnt, Luxus umgibt sie und Luxus beruhigt sie. Dies Gründe dieser Ambivalenz blieben für mich bis zum Schluss nicht greifbar.
Klischeefrei
Eine reiche Mittfünfzigerin, die im Luxus schwelgt und einem kranken Körperbild hinterherjagt – die Gefahr, von einem Klischee ins nächste zu stolpern, liegt nahe. Doch Julia Kohli umschifft die Klischeeklippe gekonnt. Ihre Matylda lässt sich nicht auf ihre Herkunft, ihr Alter, ihren Reichtum, ihre gescheiterte Ehe oder ihre Krankheit reduzieren. Sie ist eine stimmige Figur, die sehr darauf bedacht ist, Klischees zu vermeiden:
„Die alte Millionärin und der junge Gigolo. Wir leben in einem Slapstick.“
S.242
So bestimmt auch Matyldas Anorexie nicht die Erzählung. Anders als in vielen (Jugend-)Büchern zum Thema, verzichtet die Autorin darauf, immer wieder auf Zwangsgedanken rund um Nahrungsaufnahme und Bewegung zurückzukommen und konzentriert sich darauf, wie die Figur ihr Leben um die Krankheit herum gestaltet und wo deren Ursachen liegen könnten. Die Krankheit wird nie Charaktereigenschaft; ihr Ernst wird dennoch hinreichend deutlich, denn sie schränkt Matylda enorm ein, raubt ihr Kraft, beschert ihr Krankenhausaufenthalte und führt sie schließlich in eine Selbsthilfegruppe.
Aktuelle politische Entwicklungen und eine imaginäre Therapeutin
Die Einbeziehung der aktuellen politischen Entwicklungen in Europa und insbesondere in Polen wirkten im Roman wie ein Fremdkörper. Dass die Figur Matylda politisch interessiert und informiert ist, wird lange nicht deutlich, da vor allem ihre Expertise in der Kunstwelt im Vordergrund steht. Dass sie sich dann mit einer alten Freundin, von der die Leserin lange Zeit wenig Kenntnis hat, plötzlich in eine hitzige Diskussion über das Gendern stürzt, erschien überraschend und für die Figur auch ein wenig out of character. Story-technisch war die Reise nach Polen natürlich unbedingt notwendig, denn sie führt Matylda näher zur Aufarbeitung eines Kindheitstraumas.
Gespräche mit der imaginären Psychotherapeutin Frau Wunderli sollten den Leser mit einem Augenzwinkern an die Hand nehmen. Das Augenzwinkern gelang meiner Meinung nach nicht. Die Einwürfe von Frau Wunderli nehmen den Leser zu stark an die Hand und buchstabieren Schlüsse aus, die man während des Lesens selbst ziehen kann.
Thematische Überfrachtung
Bei der Reise nach Polen kommt die Sprache innerhalb der Familie auch auf verschiedene Formen der Sexualität. Dass das Thema überhaupt irgendeine Rolle im Leben der Figur gespielt hat, wurde zuvor nicht deutlich. Vielmehr wirkte es so, als wolle die Autorin noch ein aktuell vieldiskutiertes Thema mehr im Roman unterbringen. Zusammen mit dem ohnehin schon umfassenden Themenkatalog (u.a. Umgang mit dem Älterwerden, psychische Erkrankungen, Scheidung, Einsamkeit, Gegensatz zwischen Arm und Reich, Freundschaft, Gegensatz von Ost und West, polnische Innenpolitik) trägt dies zur Überfrachtung des Romans bei.
Fazit
„Das Leben ist die grösstmögliche Ruhestörung“ von Julia Kohli ist ein unterhaltsamer Roman in einem nicht alltäglichen Setting, dessen Geschichte durch die Vielzahl an eingebrachten Themen jedoch leicht ausfranst.
Julia Kohli, Das Leben ist die grösstmögliche Ruhestörung, Lenos Verlag 2024, 294 S., 28 EUR.
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Ruth Gantert auf viceversaliteratur.ch
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