Die Restaurierung der Sarajevo Haggada als Geschichtskrimi. Nie war ein altes Buch so spannend.
Als ich Louisa May Alcotts „Little Women“ (1868/69) von meiner Klassiker-Leseliste strich, war ich ein wenig enttäuscht: So wenig Emotion und einige Figuren – gerade die Mutter – blieben seltsam blass. Das änderte sich schlagartig, als ich den überragenden und mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman „March“ (2005) der australischen Autorin Geraldine Brooks las. Akribisch arbeitet sie sich in den Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Staaten ein und schildert ihn aus der Sicht des bei „Little Women“ abwesenden Vaters, den sie hier als Feldprediger am Krieg teilhaben lässt. In „March“ erweckt Geraldine Brooks die bei den „Little Women“ blassen und eindimensionalen Eltern zum Leben – und schreibt ihnen eine von Höhen und Tiefen geprägte Liebesgeschichte.
Meine Begeisterung für „March“ liest man bestimmt heraus. Daher wanderten auch alle anderen Bücher von Geraldine Brooks (sie lässt sich beim Schreiben etwas Zeit, etwa alle drei Jahr erscheint ein neues Werk) auf meine Wunschliste. Zuallererst „People of the Book“ (dt. Die Hochzeitsgabe), das sich mit den Romanen u. a. von Chaim Potok (Die Erwählten) und Deborah Feldman (Überbitten) wunderbar ins Interessengebiet Jüdische Geschichte einfügt. So viel vorab: Auch mein zweites Buch von Geraldine Brooks erwies sich als Volltreffer.
Inhalt
Ende der 1990er Jahre, der Bosnienkrieg ist gerade vorbei, soll einer der größten Kunstschätze des Landes restauriert werden: Die aus dem 14. Jahrhundert stammende Sarajevo Haggada. Das Manuskript wurde ursprünglich beim jüdischen Pessach-Fest zum Gedenken des Auszugs aus Ägypten verwendet und hält den Ablauf des vorangehenden Seder-Abends fest. Weil im Umfeld eines Krieges alles politisch ist, entscheidet man sich bei der Restauratorin für eine gänzlich unverdächtige Kandidatin: Die aus Sydney stammende Hanna Heath, eine junge Expertin für die Restauration alter Bücher.
Die Restaurierung der weltberühmten, reich illustrierten Sarajevo Haggada ist der Höhepunkt Hannas Karriere. Durch akribische Arbeit am Einband, Kleber, Seiten und Farben entlockt sie dem Buch einige seiner Geheimnisse und zeichnet seine Reise über Spanien und Italien bis schließlich nach Bosnien nach. Das uralte Buch hatte viele Freundinnen und Freunde aller Glaubensrichtungen, die es über die Jahrhunderte vor der Zerstörungswut der Inquisition, der Nationalsozialisten und den Wirren verschiedener Kriege bewahrt haben. Jetzt ist es an Hanna, das Buch zu beschützen – und ihre Arbeit geht weit über die reine Restaurierung hinaus.
Meinung
Hannas Geschichte dient als Klammer für all die anderen Geschichten, die Geraldine Brooks ersinnt, um die Reise der Sarajevo Haggada nachzuzeichnen. So findet Hanna ein Haar, das sie forensisch untersuchen lässt und Brooks entführt prompt in den muslimisch geprägten Teil Spaniens im 14. Jahrhundert, wo durch das Zusammenleben (convivencia) von Juden, Christen und Muslimen einzigartige Kunst entsteht. Andere Hinweise im Buch führen uns zu einer Gruppe jüdischer Partisanen im Bosnienkrieg oder ins politisch aufgeheizte Wien der späten 1920er Jahre.
Dabei gelingt Geraldine Brooks Bemerkenswertes: Jede der Geschichten, jede der Figuren, ist in all ihrer Unterschiedlichkeit extrem detailreich und spannend geschrieben. Ob ein spielsüchtiger Rabbi im mittelalterlichen Venedig oder die junge, gebildete Sklavin eines Sultans – als Leserin verfolgt man ihr aller Schicksal – das sich stets im Dunkel der Geschichte verliert – gleichermaßen gefesselt. Anhand all der Details über Pinselhaare, Farbherstellung, Schmiedekunst und Kalligrafie bekommt man auch als Leserin einen vagen Eindruck davon, wie viel Recherchearbeit in den Zeilen steckt. Dabei füllt Brooks Lücken in der Geschichte plausibel auf, sodass Fakt und Fiktion hier eine nachvollziehbare und spannend zu lesende Verbindung eingehen.
Die Autorin berichtet, dass sie bei der letzten Restaurierung der Haggada (damals tatsächlich durch die Deutsche Andrea Pataki) persönlich anwesend sein durfte und dies eines der beeindruckendsten Momente ihres Lebens gewesen sei. Man merkt der Geschichte die Liebe zur Sarajevo Haggada in jeder Zeile an.
Fazit
Nie war die Geschichte eines alten Buches so spannend. Unbedingte Empfehlung für alle historisch interessierten Buchliebhaber.
Geraldine Brooks, People of the Book, aus dem Englischen von Almuth Carstens, dt. Die Hochzeitsgabe, Penguin Books 2008, 372 S.
Wissenstipp: Buchrestauration, europäische Geschichte ab 1400 n. Chr.
Weitere Meinungen zu People of the Book/Die Hochzeitsgabe
Die Buchrebellin
Lesegefühl
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Weitere Bücher zum Thema Jüdisches Leben im Wandel der Geschichte
- Falcones, Ildefonso: Die Pfeiler des Glaubens
- Abécassis Éliette, Lacombe Benjamin: Der Schatten des Golem