[Dystopie] Celeste Ng: Unsre verschwundenen Herzen (2022)

Celeste Ng Unsre verschwundenen HerzenDie Autorin Celeste Ng wurde insbesondere durch den Buchclub der Schauspielerin Reese Witherspoon bekannt. Durch die Produktionsfirma Witherspoons wurden ihr Roman „Kleine Feuer überall“ verfilmt; auch ihr Buch „Was ich euch nicht erzählte“ erlangte große Bekanntheit. An diese beiden Werke kann der dystopische Familienroman „Unsre verschwundenen Herzen“ nicht heranreichen.

Inhalt

Seit einigen Jahren ist die Mutter des 12-jährigen Bird verschwunden. Seitdem nennt ihn auch niemand mehr „Bird“ – von seinem Vater und den Lehrern wird er „Noah“ gerufen. Bird zieht oft den Kopf ein und hält den Blick gesenkt, denn die chinesische Abstammung seiner Mutter ist ihm ins Gesicht geschrieben und das ist ein riesiges Problem in diesem Amerika der Zukunft, in dem das Gesetzespaket PACT aufrechte amerikanische Bürger vor chinesischer Einflussnahme schützen soll.

„PACT beschützt unschuldige Kinder vor der Indoktrination mit falschem, subversivem, unamerikanischem Gedankengut durch ungeeignete und unpatriotische Eltern.“

S. 39

Welche Eltern „ungeeignet“ zur Erziehung ihrer Kinder sind, entscheiden undurchsichtig arbeitende Behörden, die die Kinder ihren Familien in Nacht-und Nebel-Aktionen entreißen und teils unter neuem Namen bei anderen Familien unterbringen. Die Medien berichten nicht, Eltern schweigen in der Hoffnung, ihre Kinder bald wieder zurück zu bekommen und die Öffentlichkeit geht von Einzelfällen aus.

Als Bird eine verschlüsselte Nachricht seiner Mutter erhält, ahnt er, dass sie aus dem Untergrund heraus für den Widerstand aktiv ist und macht sich auf die Suche nach ihr.

Meinung
Wenig subtil, dafür realitätsnah

Während ich Ngs Romane „Kleine Feuer überall“ und „Was ich euch nicht erzählte“ insbesondere wegen ihrer Subtilität mochte – die Diskriminierung ihrer asiatisch stämmigen Figuren war stets zu spüren, aber dennoch nicht das alleinige Lebensthema –empfand ich viele Stellen in „Unsre verschwundene Herzen“ als mit dem Vorschlaghammer eingetrichtert. Ngs Dystopie wird an vielen Stellen sehr deutlich:

„In den Nachrichten wird China als unsere größte langfristige Bedrohung bezeichnet, und Politiker befürchten, dass asiatischsprachige Bücher antiamerikanisches Gedankengut oder gar verschlüsselte Botschaften enthalten könnten; manchmal beklagen sich wütende Eltern, wenn ihre Kinder sich entscheiden, Mandarin oder chinesische Geschichte zu studieren. Ich schicke mein Kind an die Uni, damit es eine Ausbildung erhält, und nicht, damit man es einer Gehirnwäsche unterzieht.“

S. 80

Dabei muss sie bei vielen Episoden nicht einmal besonders ihre Fantasie bemühen, sondern kann sich direkt bei der Realität bedienen. Berichte über Bücher, die aus (Schul-)Bibliotheken entfernt wurden (oder werden sollen), weil sie angeblich eine Gefährdung von Kindern und Jugendlichen darstellen, sie auf dumme Ideen bringen oder ihre sexuelle Identität beeinflussen, gibt es zuhauf. Noch mehr, wenn man auch jene dazu nimmt, die angeblich christlichen Vorstellungen (was jede Gemeinschaft für sich als solche auslegt) widersprechen.

Rassistische Argumente bietet der derzeitige öffentliche Diskurs zuhauf und einige Sätze kommen dem Leser erschreckenderweise aus der täglichen Berichterstattung unheimlich bekannt vor:

„Dort drüben gibt es chinesische Reisbauern mit Smartphones, geiferte ein Abgeordneter im Repräsentantenhaus. Bei uns in den Vereinigten Staaten benutzen Amerikaner Eimer als Toiletten, weil man ihnen das Wasser wegen Zahlungsunfähigkeit abgestellt hat.“

S. 219

Ng stellt auch die Eskalationsstufen, die schließlich zur Verabschiedung des im Kern rassistischen Gesetzespakets PACT führen, detailliert und nachvollziehbar dar: Für eine anhaltende ökonomische Krise wird ein Schuldiger gesucht und schließlich einigt man sich – ohne es mit Beweisen allzu genau zu nehmen – auf den gemeinsamen Gegner China, um die amerikanische Bevölkerung zu befrieden und wieder hinter einer Führung zu versammeln. Wenn schon der Staat chinesisch stämmige Amerikanerinnen und Amerikaner kritisch beäugt, sieht sich der Otto-Normal-Bürger also absolut im Recht, wenn er seinen Alltagsrassismus auslebt:

„Es passierte in anderen Städten, in endlosen Variationen: ein Tritt oder ein Schlag auf dem Gehsteig, ein Spucken ins Gesicht. Es würde überall passieren, erst nur vereinzelt, dann zunehmend häufiger, und irgendwann brachte man die Geschichten nicht mehr in den Nachrichten, weil sie nicht mehr neu waren.“

S. 221

Natürlich hat auch die Trennung von Kindern und ihren Eltern, um politische Kontrolle auszuüben, historische Vorbilder, etwa zulasten indigener Gemeinschaften oder versklavter Familien. Ein Zusammenhang, auf den Ng im Nachwort zu ihrem Roman hinweist.

Kitschig verklärt und ein wenig naiv

Die Auflösung der Geschichte und die Beschreibung des Widerstands empfand ich demgegenüber als schwach und teils sogar als ein wenig naiv. Bibliotheken und einem eher unorganisierten Netz aus Bibliothekarinnen und Bibliothekaren derart viel Bedeutung beizumessen und an die Kraft des gedruckten Wortes und die heiligen Hallen alter Bücher zu glauben, wirkte im Hinblick auf die Schwere der Situation fast unfreiwillig komisch. Zudem wurde der Einfluss technischer Neuerungen durch die Fixierung auf die physischen Bücher und Bibliotheksgebäude tatsächlich fast vollkommen ausgeblendet.

Auch die Charakterisierung von Birds Vater als etwas eigenwilligen Etymologen ist zwar eine nette Idee; dass die Liebesgeschichte zwischen ihm und der abwesenden Mutter sich aber vor allem darauf gründete, sich wochenlang gegenseitig Wörterbücher vorzulesen, schrammte für mich schon hart an der Grenze zum Kitsch vorbei und überschritt diese auch ein ums andere Mal.

Fazit

Unsre verschwundenen Herzen von Celeste Ng ist ein dystopischer Roman, der sich in weiten Teilen an der Realität bedienen kann, dessen Auflösung jedoch etwas verklärt und naiv gerät.


Celeste Ng, Unsre verschwundenen Herzen, OT: Our Missing Hearts, aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit, dtv 2022.

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