Als Clarks Sachbuch zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs punktgenau 2014, 100 Jahre nach Kriegsausbruch, erschien, hagelte es Lob und Kritik gleichermaßen.
Bemerkenswert war zuerst einmal, dass sich ein australischer Historiker daran machte, ein neues Standardwerk zum Ersten Weltkrieg zu verfassen. Clark wartet mit einer nuancierten Bewertung der Kriegsschuldfrage auf und hielt sich mit einem historischen Sachbuch wochenlang auf Platz Eins der Bestsellerlisten [1]. Die Kritiker, unter ihnen auch zahlreiche Buchblogger, bemängelten nicht etwa die durchaus vorhandene Genauigkeit und die Materialauswahl (eine schier unüberschaubare Fülle), sondern waren häufig schlicht anderer Meinung als der Autor. Besonders aus Clarks Gewichtung der Ereignisse, aus der Rolle, die er ihnen für den Kriegsausbruch beimaß, speiste sich die Kritik. Daran kann und möchte ich mir an dieser Stelle gar nicht beteiligen, denn mir fehlt schlicht die Historiker-Ausbildung, die mir erlauben würde, eine eigenständige Bewertung der von Clark verwendeten Dokumente vorzunehmen. Schon aus Problemen der Zugänglichkeit heraus, ist es wohl leichter, vergleichbar umfangreiche Werke zum gleichen Thema zu lesen, um hier bewusst mit anderen Meinungen konfrontiert zu werden. Dass Clark seine Meinung auf Grundlage der von ihm ausgewerteten Dokumente kundtut, ist als Historiker nun einmal seine Aufgabe.
Für mich war die Lektüre seines Werkes „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ bereichernd. Beim Lesen spürte man eine gewisse Distanz des Autors zu den Ereignissen, die vielleicht aus seiner Rolle als australischer Historiker, der sich nicht um die gerade vorherrschenden Strömungen und gewissermaßen die „Befindlichkeiten“ der europäischen und nationalen Geschichtswissenschaften kümmern muss, herrührt. Besonders beeindruckt hat mich der ausführliche und tiefgehende Einblick in die serbische Geschichte. Clark gesteht Serbien eine nicht zu unterschätzende Rolle für den Kriegsausbruch zu und schildert detailverliebt die Ansichten verschiedener Nationalisten und die Planung des Attentats auf Franz Ferdinand. Für mich waren diese Feinheiten neu und lesenswert; in Serbien selbst hingegen, sorgte die komprimierte und nicht immer schmeichelhafte Darstellung der Landesgeschichte – schmeichelhaft ist bei Clarks Buch die Darstellung keiner nationalen Geschichte – für Aufregung [2]. Interessant, wie auch noch hundert Jahre später ein Geschichtsbuch die Gemüter erregen kann.
Beeindruckend waren auch die große Anzahl der ausgewerteten Dokumente und die detaillierten Angaben der Fundstellen im Glossar, die es ermöglicht, sich bei Interesse ggf. selbst ein Bild des Sachverhalts zu machen. Clark reiht dabei nicht nur historische Fakten aneinander, auch, wenn der Text insgesamt sehr dicht ist und es sich empfiehlt, die eine oder andere Passage zweimal zu lesen. Der Autor schreibt so unterhaltsam, wie es für ein seriöses Sachbuch über die Vorgeschichte eines Weltkrieges möglich scheint. An einigen Stellen erschien mir persönlich Clarks Schreibstil aber zu locker; unangenehm aufgefallen ist hier besonders die Titulierung des jungen Zar Nikolaus als „Teenager Nicky“.
„Die Schlafwandler“ eröffnet einen weit differenzierteren Blick, als er im Schulunterricht ermöglicht wird. Denn egal, ob man den Thesen des Autors folgt oder nicht, so wird anhand des Buches deutlich, dass es durchaus möglich ist, die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges und besonders die Schuldfrage, aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Wer also seine Geschichtskenntnisse vertiefen oder auffrischen will, ist mit der Lektüre sehr gut beraten. Um Längen zu vermeiden, ist es auch möglich, bestimmte Kapitel herauszugreifen und sich eingehender mit den Ereignissen eines bestimmten europäischen Landes zu befassen.
Christopher Clark „Die Schlafwandler. Wie Europa in den ersten Weltkrieg zog“ (OT: The Sleepwalkers: How Europe Went to War in 1914), Pantheon Verlag 2015, 2. Auflage, 896 S., 19,99€.
[1] http://www.zeit.de/2014/18/erfolg-historische-sachbuecher
[2] http://www.sueddeutsche.de/politik/jahre-erster-weltkrieg-geschichtsbuch-treibt-serbiens-elite-um-1.1869422
Seit langer Zeit kann ich wieder einmal die Tipp-Blase anheften, denn die Lektüre der „Schlafwandler“ war ein echter Wissensgewinn.
Ich habe das Buch eigentlich auf meiner Leseliste für 2015 stehen und es steht auch schon eine ganze Weile hier im Regal. Dieses Jahr werde ich es nicht mehr schaffen, dieses diiiiicke Werk zu lesen. Aber es kommt wieder auf die Liste für 2016.
Ich habe es auch über das letzte halbe Jahr hinweg immer mal wieder zur Hand genommen, denn ich fand, dass es durchaus seine Längen hatte bzw. dass ab und zu einfach eine Pause von diesem sehr dichtem Text nötig war. Lass mich gern wissen, wie es dir gefallen hat!
Ist es seltsam einen Kommentar zu einer Rezension von 2015 zu verfassen? Naja, egal. Bei mir steht das Buch auch schon seit Ewigkeiten auf meiner Leseliste. Ich hab’s ja sogar schon zuhause stehen. Ich möchte nur kurz was zu den verschiedenen Blickwinkeln sagen, die du in deiner Rezension angesprochen. Ich studiere ja selbst Geschichte und wundere mich dann immer wieder darüber, dass wir von den Professoren ermutigt werden, verschiedene Blickwinkel und verschiedenste Literatur zu betrachten, nur um dann wütend zu werden, wenn man als Student vielleicht zu einer anderen Schlussfolgerung kommt. Die Sache ist nun einmal so: Die Geschichte ist keine exakte Wissenschaft. Natürlich, es gibt Sachen, die sind klar. Aber selbst bei manchen Daten kann man diskutieren. Zum Beispiel wird in Europa der 8. Mai als Ende des Zweiten Weltkriegs gesehen, während dieser für die USA und Japan noch weitergegangen ist. Und gerade so Fragen nach Schuld und Unschuld sind unglaublich schwer zu beurteilen.
Eine wirklich sehr schöne Rezension und ich denke, ich werde nun wirklich bald zu diesem Buch greifen.
Liebe Grüße
Hallo Elisabeth,
nein gar nicht! Ich mache das auch oft auf anderen Blogs und freue mich immer, wenn auch ältere Beiträge hier noch gelesen werden.
Dass Geschichte keine exakte Wissenschaft ist, ist sehr wahr und wird einem in der Schule gar nicht so bewusst gemacht. Gerade die Betrachtung der Schuldfrage des Ersten WK ist ja umstritten (das wurde damals in der Schule tatsächlich besprochen) und deshalb wollte ich die Schlafwandler, in dem der Autor einen noch mal neuen Blickwinkel einnimmt, auch unbedingt lesen. Mich würden unbedingt auch Sachbücher zu historischen Themen aus dem asiatischen oder afrikanischen Raum interessieren, aber mir scheint, diese schaffen es fast nie auf den deutschen Sachbuchmarkt. Gerade deshalb habe ich zuletzt erst Ibram X. Kendis ,,Gebrandmarkt“ gelesen, weil es einen stark akzentuierten und meiner Meinung nach in dieser Form auch neuen Blick auf die US-amerikanische Geschichte wirft: https://wissenstagebuch.com/2018/02/14/ibram-x-kendi-gebrandmarkt/.
Lass mich gern wissen, was du als Frau vom Fach von den Schlafwandlern hältst!
Liebe Grüße
Jana
Liebe Jana,
ich finde es gerade sehr cool, über deine Rezension zu Clarkes Schlafwandlern gestolpert zu sein, da ich das ganze Wochenende dabei war, einer Referendarin dabei zu helfen, dieses Buch für einen Unterrichtsbesuch fruchtbar zu machen und daher meine Beiträge beim #litnetzwerk etwas vernachlässigt habe.
Als Historikerin, die sich mit der Debatte über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs auseinandergesetzt hat, finde ich das Buch absolut faszinierend. Es kam raus, nachdem ich das Seminar an der Schule hatte, aber es hat definitiv die Sichtweise nochmal verschoben. Frisch Fischers These der Hauptschuld Deutschlands, die bis zu Clarke fast zum Standard in der Geschichtskultur wurde (als Historikerkontroverse, die auch Zugang zu den Massen fand), finde ich als Schritt in der Betrachtung der „Schuld“ für den Weltkrieg genauso wichtig wie Clarke. Es ist möglich, ein immer detaillierteres Bild zu gewinnen – faszinierend.
Danke für deine Rezension aus Sicht einer historisch interessierten Buchbloggerin.
Liebe Grüße,
Francis
Hallo Francis,
danke für deinen ausführlichen Kommentar! Es ist jetzt schon eine Weile her, dass ich die Schlafwandler gelesen habe, aber ich fand es auch unheimlich spannend zu lesen, wie sich die Perspektive und Bewertung der Schuldfrage langsam verschiebt.
In meinem Geschichtsunterricht dominierte zwar klar Fritz Fischers These, aber der Kurs hat unter Anleitung des Lehrers begonnen, die Schuldfrage anders zu bewerten. Das hatte ich bei der Lektüre noch im Kopf und fand es dann sehr erhellend, eine detaillierte Beschreibung der Ereignisse – gerade in Serbien, das kam in der Schule leider viel zu kurz – zu erhalten. Nach der Lektüre hatte ich das Gefühl, zum einen eine Menge Neues erfahren und zum anderen auch eine andere Perspektive eingenommen zu haben.
Historische Sachbücher lese ich sehr gerne, weil vieles in der Schule nur grob angerissen wurde. Das finde ich im Nachhinein schade, aber auf der anderen Seite hat der Unterricht ja sein Ziel erreicht, wenn man sich auch jetzt noch gerne vertieft mit den angesprochenen Themen beschäftigt. Deiner Referendarin viel Erfolg bei der Vorbereitung!
Viele Grüße
Jana