Im Schweiße meines Angesichts habe ich damals meine 150-Bücher-Leseliste zusammen geschrieben. Seitdem ist ein Jahr vergangen und ich habe zwei Dinge bemerkt. Erstens, trotz aller Sorgfalt habe ich ein paar Bücher vergessen, die unbedingt noch drauf gehören:
Aber der Zug ist abgefahren. Die 150er Liste steht felsenfest und obige Bücher packe ich vielleicht auf eine neue Liste oder schiebe sie zwischendurch (dann allerdings ohne das befriedigende Erlebnis des Abhakens) ein.
Zweitens: Es läuft super mit der Liste! 18 Werke haben im letzten Jahr einen Haken bekommen und das, obwohl viel anderes zwischendurch und drum herum gelesen wurde. Ein Blick auf die Liste macht die Buchauswahl leicht und spornt dazu an, Klassiker in die Hand zu nehmen. Von vielen Werken war ich begeistert, von einigen wenigen enttäuscht.
Die Highlights
Die Erwählten von Chaim Potok habe ich erwählt, weil mich der Hintergrund des Autors fasziniert hat: Selbst jüdisch-orthodox erzogen und zum Rabbi ausgebildet, war seine Familie von seinen schriftstellerischen Ambitionen gar nicht angetan. Nachdem Deborah Feldman mit Unorthodox mein Interesse für die chassidische Gemeinschaft in New York geweckt hatte, wollte ich einmal einen anderen (männlichen, positiven) Blick darauf werfen. Potok ist nicht unkritisch, nähert sich dem Thema aber sehr viel wohlwollender als Feldman und schafft es außerdem, den Zauber der Gelehrsamkeit und Bibliotheken aufleben zu lassen. Frauen kamen in diesem Buch leider mehr als kurz, aber davon abgesehen ist Die Erwählten eine wunderschöne Erzählung über die sehr ungewöhnliche Freundschaft zweier Jungen im New York der 40er und 50er Jahre. Der Folgeband Das Versprechen steht auf meiner Wunschliste.
Der Roman eines Schicksallosen von Imre Kertész geht mit seinen kindlich-naiven Schilderungen der Schrecken des Holocausts unter die Haut. Gerade diese Erzählweise ist es, die das Buch von vielen anderen Erzählungen zum Thema abhebt und die bestimmt dazu beigetragen hat, Kertész zum Nobelpreisträger zu machen. Unbedingt lesen!
Wie ich merke, sind meine Highlights sehr vom Thema Judentum geprägt. Jud Süß von Lion Feuchtwanger hat mich nach einem schwierigen Einstieg mit seiner großartigen Sprache und seinen ambivalent-menschlichen Figuren beeindruckt. Er lässt das historische Württemberg vor dem Auge des Lesers auferstehen und auch, wer sich wie ich normalerweise nicht für historische Romane begeistern kann, findet Gefallen an den politischen Intrigen und Hinterzimmer-Machenschaften, die Feuchtwanger hier so glaubwürdig konstruiert. Religiöse Konflikte sind dabei allgegenwärtig und der Autor beweist seine herausragende Bildung immer wieder durch das Einstreuen von kleinen Details. Ich bin gespannt auf seine Jüdin von Toledo.
Mein zuletzt beendetes Buch gehört definitiv zu den bisherigen Highlights der Leseliste: Madame Bovary von Gustave Flaubert. An alle, die in der Schule mit Effi Briest „gequält“ wurden – wenn ihr es noch mal, diesmal auf eigene Faust und besser, versuchen wollt mit jener Epoche, schnappt euch dieses Buch! Es lässt sich trotz seines Alters wunderbar lesen und Flauberts leise Ironie und sein scharfer Blick für die Fehler der Menschen machen es zu einem unterhaltsamen (und nicht gerade braven) Leseerlebnis. Madame Bovary verschwindet nicht mit ihren Geliebten „in den Dünen“ und überlässt den Rest der Fantasie des Lesers – so viel sei gesagt. Der Autor saß für diese Geschichte im Kittchen, also gebt Effis literarischem Vorbild eine Chance.
Die Enttäuschungen
Enttäuscht war ich von Georg Büchners Lustspiel Leonce und Lena. Insgesamt zu albern, die Protagonisten, die demnächst über Wohl und Wehe ihres Königreiches entscheiden unreif, das Eintreten für einen geeinten deutschen Nationalstaat bestimmt zur damaligen Zeit berechtigt, aus heutiger Sicht aber ziemlich direkt, fast plump. Ich werde es zu gegebener Zeit noch einmal mit etwas Ernsterem von Büchner versuchen; mit seinem Lustspiel konnte er mich nicht überzeugen.
Auch von Frühlings Erwachen von Frank Wedekind hatte ich mir mehr versprochen. Überrascht war ich von der Offenheit, mit der entgegen aller wilhelminischen Zurückhaltung Sex thematisiert wurde. Genervt haben mich die ewig langen Monologe und das, was ich zunächst als positiv registriert hatte: Es wurde eben nur Sex thematisiert. Gewalt zu Hause und in der Schule, die konservativ vorgezeichneten Wege der Geschlechter, Obrigkeitshörigkeit: Andere Themen haben sich angeboten, wurden aber nicht aufgegriffen oder höchstens gestreift. Kann man lesen – oder sich die Verfilmung von Nuran David Çalış ansehen.
Der Ausblick
Damit geht’s auf ins nächste Jahr mit der Leseliste und ich hoffe, ich kann die 18 Bücher im ersten Jahr toppen, denn ein ganzes Jahrzehnt sollte das Lesen eigentlich nicht dauern. Aber selbst wenn – der Weg ist ja bekanntlich das Ziel.
Guten Morgen!
Na da hast du dir ja einiges vorgenommen mit deiner Leseliste – meinen vollsten Respekt dafür! Und 18 Bücher abhajen zu können ist klasse! Gerade Klassiker und solche, die es zu werden versprechen, sind ja nicht immer die Lektüre zu der man bevorzugt greift. Viel Erfolg weiterhin! 🙂
Liebe Grüße!
Gabriela
Guten Morgen,
dankeschön! Aber ich vermute, dass das Lesen langsamer laufen wird, wenn ich meine Favoriten rauagepickt habe und mich dann vielleicht ein wenig ,,quälen“ muss.
Viele Grüße
Jana
😀 Ja das kann natürlich sein. Vllt musst du dann irgendwann die Augen schließen und blind auf ein Buch tippen und hoffen, dass es dich überrascht 🙂
Hallo Jana,
Eine schöne Liste.
Darf ich Dir einen Buchtipp für Deine Wunschliste geben?
(Kurze höfliche Pause für Dein Ja)
Chaim Potok hat mit „Mein Name ist Asher Lev“ ein Buch zum Themenkomplex Chassidismus und Kunst geschrieben – es geht um einen Jungen iN New York, der malen will. Der es kann, Der nichts anderes will. Und sich als Jude an den Bildern der europäischen Kultur abarbeitet.
Ich habe das Buch vor gut 30 Jahren gelesen und stelle immer wieder fest, dass es mir im Kopf herumgeistert – sowohl bei Fragen nach Familientraditionen als auch bei manchen Bildthemen, wie z. B. Kreuzigungen.
Wenn Du also noch ein Lesezeiteckchen frei hast …
Viele Grüße
Heike
Liebe Heike,
vielen Dank für diesen Hinweis! Asher Lev habe ich schon im Hinterkopf, seit ich ,,Die Erwählten“ von Potok gelesen habe. Tatsächlich hatte ich es letzte Woche in der Buchhandlung noch in der Hand (Schleichwerbung für Dussmann, die haben so etwas tatsächlich vorrätig). Im Moment liegt noch sein ,,Zebra: Geschichten aus Amerika“ auf meinem Stapel.
Toll, dass Asher Lev so einen bleibenden Eindruck bei dir hinterlassen hat; ich mache mich auch dran, sobald das erste Lesezeiteckchen frei wird!
Viele Grüße
Jana
Hallo Jana,
wow, deine Liste ist mit 150 deutlich umfangreicher als meine 50 Klassiker ;-). Dafür hast du dir aber keine Deadline gesetzt, wenn ich das richtig sehe?
Finde interessant, wie du deine Liste historisch unterteilt hast und super, dass du auch gezielt religiöse Schriften mit drauf hast.
Wünsche dir weiterhin viel Freude beim Entdecken der Weltliteratur!
Liebe Grüße
Stephanie
Hallo Stephanie,
über eine Deadline hab ich kurz nachgedacht, die Idee dann aber wieder verworfen – zu viel Druck. 😉 Aber ich habe bemerkt, dass ich viel häufiger Klassiker lese, seit ich die Liste habe. In fünf Jahren werde ich es aber wohl trotzdem nicht schaffen – da machen mir die Bibel und Proust einen Strich durch die Rechnung.
Ich wünsche dir und euch auch viel Spaß mit eurer Challenge!
Viele Grüße
Jana