Als junges Mädchen wird Dalia in einen Gulag ans Polarmeer verbannt. Tausende Kilometer von ihrer Heimat Litauen entfernt, den Tod durch Hunger, Kälte und Krankheit direkt vor Augen. Als ihr schließlich die Flucht gelingt, schreibt sie ihre Erinnerungen auf und vergräbt sie im heimischen Garten – gerade noch rechtzeitig, bevor sie vom KGB gefasst und zurückgebracht wird. Erst 1991 wird das Manuskript wiederentdeckt und gehört seitdem zum Kanon der litauischen Nationalliteratur. Ein wahrer – und deshalb umso verstörender – Erfahrungsbericht aus dem Inneren eines menschenverachtenden Systems.
Ein Bericht aus der Eiswüste
Einen Erfahrungsbericht aus einem Gulag hatte ich bislang noch nicht in der Hand. Einer der bekanntesten, „Der Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn steht noch auf meiner Klassiker-Leseliste. Durch eine persönliche Empfehlung von mannigfaltiges wurde ich jetzt auf Grinkevičiūtė aufmerksam und konnte das Buch seitdem nicht aus der Hand legen. Zu schrecklich die Schilderungen, zu menschenverachtend, zu sinnlos und willkürlich das Leid der Deportierten. Aber der Himmel über der Eiswüste – grandios.
Die Frage nach dem Warum?
Vielleicht aus Selbstschutz, vielleicht weil es keine Rechtfertigung dafür geben kann, unschuldige Kinder an den lebensfeindlichen Rand der Welt zu verbannen und sich selbst zu überlassen: Grinkevičiūtė stellt nie die Frage nach dem Warum. Wir erfahren aus einem Vermerk, dass ihr Vater als hoher Beamter bei der Nationalbank tätig war und wohl deshalb zur Intelligenzija Litauens gezählt wurde. Mehr nicht. In Sippenhaft genommen, erscheint die mehrere Monate dauernde Reise ans Polarmeer noch leidlich organisiert vonstatten zu gehen. Dort angekommen stehen die Deportierten auf einer verwaisten Ebene und bauen sich ihre Baracken selbst. Die Schilderungen aus dem Inneren sind verstörend: elendiger Hunger, die Nahrungsmittelversorgung scheint von der Willkür des Lagerleiters abzuhängen. Leichenberge vor den Türen, weil der Boden zu hart ist, um Gräber auszuheben. Tote unter den Pritschen, weil die Baracke so eingeschneit ist, dass kein Ausweg zu finden ist. Zerfetzte Kleidung bei –40°Grad, dazu 16 Stunden Schwerstarbeit für eine Brotmarke. Kaum mehr als 30 Kilogramm auf den Rippen.
Dabei gibt es eine Schule, gar ein improvisiertes Krankenhaus und mit der Ankunft eines neuen Arztes wird auch die Versorgung besser. Die Willkür und der Zynismus des Systems UdSSR sind deutlich zu spüren. Dabei spielt Ideologie und Politik in den Schilderungen kaum eine Rolle. Vielmehr sind an der Laptewsee Ethnien entscheidend, meist bleiben die Verbannten mit ihrem Heimweh unter sich.
Weil der Bericht so unmittelbar ist, wohl auch hastig niedergeschrieben wurde und ich kaum Vorwissen hatte, stellten sich mir beim Lesen viele Fragen. Das „Warum“ lässt mich nicht los und bei dem Gedanken daran, dass es jetzt, zu diesem Zeitpunkt auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR noch abertausende Menschen geben muss, die das Grauen der Gulags am eigenen Leib erfahren haben und schweigen, wird mir ganz anders zu Mute.
Die einsame Jurte
Das Buch beinhaltet einige Fotografien und Karten; am meisten erschreckt hat mich ein eher unscheinbares Bild. Es ist eine selbstgebaute, spärlich zusammengezimmerte Jurte; die Aufnahme stammt von 1998. Wenn man zuvor gelesen hat, unter welchen Bedingungen diese Bauten entstanden und wie viel Leid ihrer Bewohner sie gesehen haben, macht der Anblick fassungslos. Bei dem Gedanken daran, dort einen Polarwinter zu verbringen, wird mir mulmig zumute. 1998 – das heißt, die Spuren der Gulags waren zu dieser Zeit noch sichtbar. Sie sind es vielleicht immer noch. Ich weiß es nicht, aber ich bin tief betroffen und wünsche mir, dass der Erfahrungsbericht von Dalia Grinkevičiūtė, der in Litauen Schullektüre ist, auch bei uns größere Bekanntheit erlangt.
Dalia Grinkevičiūtė: Aber der Himmel – grandios (OT: Lietuviai prie Laptevų jūros, aus dem Litauischen von Vytenė Muschick), 206 S., 19,90 €, ISBN: 978-3-88221-387-4.
Weitere Informationen zur Lebensgeschichte von Dalia Grinkevičiūtė finden sich hier.
Hey Jana
das Buch ist mit Sicherheit absolut Lesenswert und ich hab es schon notiert. Literatur zu der alten Geschichte der Sowjetunion und die schrecklichen Geschehnisse um die Gulags gibt es viel zu wenige oder unbekannte.
Als Hörbuch hatte ich ‚Suleika öffnet die Augen‘ auch eine sehr eindringliche Geschichte die mir unter die Haut ging.
Liebe Grüße
Kerstin
Hallo Kerstin,
super, das Buch ist eine absolute Empfehlung. Der Text wirkt sehr authentisch und wie in großer Hast verfasst, was ihn noch eindringlicher macht. ,,Suleika öffnet die Augen“ habe ich mir gleich notiert! Ansonsten habe ich noch ,,Dshamilja“ als Hörbuch im Kopf (https://wissenstagebuch.com/2011/08/17/%E2%99%AB-tschingis-aitmatow-dshamilja/ ), aber die Thematik ist schon eine andere, auch, wenn es einige wenige Parallelen gibt.
Viele Grüße
Jana
Danke für den Tipp Jana, jetzt hab ich gleich 2 neue Wunschlistenbücher 🙂
Hallo Jana,
Dieses Buch habe ich auch vor einiger Zeit gelesen und war davon stark bewegt. Es ist immer wieder erstaunlich, was Menschen ertragen können. Ich hoffe, dass Deine gute Rezension zur Lektüre anregt.
Liebe Grüße
Ruth
Hallo Ruth,
vielen Dank für das Lob. Ich war erstaunt, dass mir dieses großartige und wichtige Buch nicht schon viel früher in anderen Blogs über den Weg gelaufen ist, besonders zu der Zeit, als ich ein wenig tiefer in die litauische Literatur eingetaucht bin (z.B. in die Exilliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg https://wissenstagebuch.com/2017/03/15/deutschland-als-mittelpunkt-litauischer-literatur-die-zeit-von-1945-bis-1949/). Es freut mich, dass du es auch als so bewegend empfunden hast. Hoffen wir, dass es noch ein wenig bekannter wird!
Viele Grüße
Jana
Empfehlen kann ich in diesem Zusammenhang Ellinor Lipper „Elf Jahre meines Lebens“. Das ist schon in den fünfziger Jahren erschienen,jetzt neu aufgelegt und auch als Hörbuch erhältlich. Eine sehr reflektierte und beeindruckende Schilderung der langjährigen Gefangenschaft in verschiedenen Gulags.
https://www.amazon.de/Elf-Jahre-meines-Lebens-sowjetischen/dp/3905811014
Großartig, danke für den Tipp. Das habe ich mir gleich notiert. Es ist ein schmerzhaftes Thema, aber auch hier hilft wohl nur, sich einzulesen und durch Erfahrungsberichte zu lernen, was Menschen sich gegenseitig antun können. Das zu wissen kann vermutlich nie schaden.
Ich habe auch eine Empfehlung zum Thema: Gusel Jachina: Suleika öffnet die Augen
Es ist zusätzlich auch eine starke Emanzipationsgeschichte.
https://literaturleuchtet.wordpress.com/2017/06/30/gusel-jachina-suleika-oeffnet-die-augen-aufbau-verlag/
Danke! Das ist gleich die zweite spontane Empfehlung zu dem Werk; jetzt wird es auf der Wunschliste unterstrichen. Ich freue mich, dass du und viele andere hier mitlesen und gerade bei schwierigen Büchern zu unbequemen Themen immer wieder Empfehlungen beisteuern. Das ist wirklich großartig und hat mich schon viele neue Werke entdecken lassen. Deine Besprechung macht Lust auf das Werk.
Das freut mich! Mich bereichert das Lesen von anderen Buchblogs sehr. Es sind immer wieder Perlen dabei, die ich sonst nicht entdeckt hätte.
Viele Grüße!
Danke für die einfühlsame Beschreibung – ich werde das Buch mit Sicherheit aus lesen. Liebe Grüße, Andrea
Hallo,
das Buch ist direkt auf meine Wunschliste gewandert. Habe vorher noch nie davon gehört, aber das was du in deiner Rezension schreibst interessiert mich sehr. Vor einiger Zeit habe ich „Und in mir der unbesiegbare Sommer“ von Ruta Sepetys gelesen und wollte danach gerne mehr über das Thema lesen. Auch wenn es hart ist, finde ich es doch wichtig sich damit auseinanderzusetzen.
LG
Julia
Hallo Julia,
schön, dass ich dich für das Buch begeistern konnte! Obwohl es jetzt schon einige Wochen her ist, dass ich es gelesen habe, wirkt es immer noch bei mir nach. Ich hoffe, dir geht es ähnlich. Danke für den Tipp; „Und in mir der unbesiegbare Sommer“ von Ruta Sepetys schaue ich mir gleich mal an.
Viele Grüße
Jana
Hallo Jana!
Was für eine beklemmende Rezension. Es macht mich sprachlose, was Menschen anderen Menschen antun und ich spüre einen dicken Kloß im Hals. Das Buch kommt auf jeden Fall auf meine Wuli, da ich über die Gulags ohnehin viel zu wenig weiß.
Liebe Grüße
Sabrina
#litnetzwerk
Hallo Sabrina,
danke für deinen Kommentar und schön, dass ich dich auf das Buch aufmerksam machen konnte! Es ist garantiert kein Wohlfühlbuch, aber ich fand es ganz wichtig, dieses Buch mal hier vorzustellen, weil ich es selbst so bereichernd fand.
Viele Grüße
Jana