In seinem Sachbuch entlarvt Archie Brown einen Mythos, der in der letzten Zeit verstärkt Anhänger findet: Ein Staat brauche einen „starken Führer“, um erfolgreich zu sein. Nein, erklärt Brown. „Starke“ Führung führt nur selten dazu, dass Ziele erreicht werden. Ein gut argumentiertes, wichtiges Werk.
Die Dekonstruktion des Mythos
Archie Brown ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Universität Oxford. In seinem Werk „Der Mythos vom starken Führer“ beschreibt er, was gemeinhin unter einem „starken Führer“ verstanden wird. Danach arbeitet er verschiedene Arten von Staatsführung heraus und unterfüttert seine Typisierungen mit historischen und aktuellen Beispielen aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Er unterscheidet zwischen neudefinierender, transformativer, revolutionärer und totalitärer Führung.
Neudefinierende Führung: Die Grenzen des Sagbaren verschieben
Neudefinierende Führung beschreibt nach Brown das Handeln von Staatsmännern und -frauen, die in ihren Amtszeiten neu definieren, was politisch möglich ist und so große wirtschaftliche oder politische Veränderungen herbeiführen. Während unter vielen Regierungschefs häufig alles beim Alten bleibt, agieren neudefinierende Staatsführer so, dass die Grenzen des Sag- und Machbaren verschoben werden. In der derzeitigen öffentlichen Diskussion ist die „Verschiebung der Grenzen des Sagbaren“ negativ konnotiert. Brown versteht den Begriff aber zunächst wertungsfrei und führt etwa Beispiele aus der deutschen Nachkriegsgeschichte an.
So seien die Kanzler Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl neudefinierende Führer gewesen. Anhand von Willy Brandts Entscheidung, den Verlust der deutschen Ostgebiete zu akzeptieren und seinem Kniefall vor dem Warschauer Holocaust-Denkmal zeigt Archie Brown, was neudefinierende Führer ausmacht: Durch ihr Handeln im Rahmen ihrer verfassungsmäßigen Befugnisse ändern sie Staatsräson und öffentliche Meinung.
Im kurzen Fazit zum Kapitel beschreibt Brown die für mich überraschende Erkenntnis, dass ein US-amerikanischer Präsident in seinen Entscheidungen nicht so frei agieren kann, wie etwa ein Bundeskanzler oder ein britischer Premierminister. Er begründet seine These mit dem dichten Geflecht an Lobby- und Interessenverbänden, sowie dem starken Kongress und der strikten Gewaltenteilung in den Vereinigten Staaten. Insgesamt sei neudefinierende Führung in Demokratien als auch in autoritären Staaten eine Ausnahmeerscheinung.
Transformative Führung: Der Wandel im System
Transformative Führung führt zu tiefgreifenden Veränderungen im politischen, wirtschaftlichen und ggf. auch im internationalen System. Sie verändert das bestehende System zum Besseren und unterscheidet sich insbesondere in diesem Punkt von der neudefinierenden und der im unten beschriebenen revolutionären Führung, bei denen der Wandel zum Besseren nicht impliziert ist.
Als transformativen Führer beschreibt Brown z. B. Charles de Gaulle, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Kriegsheld in Frankreich hohes Ansehen genoss. Im Gegenteil zu revolutionären Führern, eignen sich transformative die Macht nicht mit Gewalt an und führen auch Veränderungen nicht gewaltsam durch. De Gaulle gestaltete etwa Verfassung und Wahlsystem in Frankreich grundlegend um und führte die Direktwahl des Präsidenten ein.
Eine Figur, die gar nicht auf meinem historischen Radar vorhanden war, ist Adolfo Suárez. Erfahrung sammelte er als hochrangiger Beamter im Regime Francos, bevor er als Regierungschef Spaniens Demokratisierung vorantrieb. Gerade die Beschreibung von Suárez‘ Vorgehen zeigt, dass die effektive Durchsetzung von politischen Vorstellungen gerade nicht durch einen lauten, poltrigen, dickköpfigen „starken Führer“ geschieht, sondern durch besonnenes, hartnäckiges Kompromisseschließen. Suárez wirkte der Abspaltung von Katalonien und dem Baskenland entgegen und brachte das Parlament – dessen Mitglieder teilweise von Franco ernannt und nicht gewählt worden waren – dazu, sich selbst zu entmachten und einer wirklichen Demokratisierung Spaniens zuzustimmen.
Einen tiefgreifenden Systemwandel stieß auch Michail Gorbatschow an. Brown beschreibt ihn anhand von Zeitzeugenberichten nicht als „starken Führer“, sondern als jemanden, der bereit war, zuzuhören, andere geduldig zu überzeugen und aus taktischen Gründen zurückzustecken.
Revolutionäre Führung: Gewalt schafft Gewalt
Revolutionäre Führung schafft einen Systemwechsel durch die gewaltvolle Zerschlagung bestehender Institutionen unter Beteiligung einer großen Bevölkerungsgruppe und Einführung einer neuen Ideologie oder Rechtfertigung.
Als Beispiele für revolutionäre Führungspersönlichkeiten führt Brown insbesondere Männer aus kommunistischen Regimen wie Lenin, Tito und Pol Pot an. Er nimmt aber auch Bezug auf die jüngsten Revolutionen in der arabischen Welt.
Totalitäre Führung: Warum sie nichts taugt
Das Kapitel, das mich anfangs am stärksten interessiert hatte, wirkte vor allem ernüchternd. Brown beschreibt die Führung Maos, Stalins, Mussolinis und Hitlers grundsätzlich als ineffektiv. Diese „starken Führer“ führten ihre Staaten ins Verderben und verantworteten den Tod von Millionen Menschen. Maos „Großer Sprung nach vorn“, eine Politik, die China international eine wirtschaftliche Führungsrolle katapultieren sollte, war laut Brown der Inbegriff des Chaos.
Totalitäre Systeme sind nicht geeignet, Probleme zu lösen. Sie schulden den Bürgern keine Rechenschaft und sind deshalb nicht gezwungen, auf Klagen einzugehen. Nicht aufschiebbare Reformen oder Veränderungen führten historisch meist zu Unsicherheit und Unordnung. Totalitäre Systeme garantieren keine Stabilität. In Demokratien führt der Regierungswechsel nur zu zeitweiser Unsicherheit; in totalitären führt ein Sturz der Regierung zwangsläufig in eine Systemkrise.
Satz für Satz demontiert Brown den Mythos vom starken Führer. Er zeigt auf, wie Totalitarismus und eine stark autoritäre Führung zwangsläufig zu schlechteren Bedingungen für die Bevölkerung führen. Die katastrophale Bilanz der historischen Beispiele untermauert seine These.
Fazit
Brown vereinigt in seinem Buch Theorie und Empirie auf anschauliche Weise. Er argumentiert stringent für etwas, das eigentlich jedem einleuchtet: Ein „starker Führer“, der ohne Rücksicht auf Verluste seine Ideen durchsetzt und losgelöst und opponierenden Meinungen regiert, ist nicht wünschenswert. Historisch waren es vor allem die Eigenschaften Besonnenheit, Hartnäckigkeit, Kompromissbereitschaft und das Gefühl für den richtigen Moment, die Veränderungen zum Besseren bewirkt haben.
Ein ausgezeichnet geschriebenes Sachbuch, das historische Kenntnisse auffrischt und die Einordnung von vage bekannten Namen erleichtert. Leider gibt es keine Grafiken zur Veranschaulichung. Dafür aber viele Beispiele aus der jüngeren Geschichte und eine sehr aktuelle Einleitung, die das Phänomen Donald Trump untersucht.
Archie Brown, Der Mythos vom starken Führer. Politische Führung im 20. und 21. Jahrhundert (OT: The Myth of the Strong Leader, aus dem Amerikanischen von Stephan Gebauer), Ullstein 2018. Die deutsche Ausgabe wurde in Absprache mit dem Autor gekürzt.
Wissenstipp: Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, historische Persönlichkeiten, Theorien zu Staatsführung
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