Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah ist nach den erfolgreichen Romanen Kim Jiyoung, geboren 1986 und Miss Kim weiß Bescheid der dritte auf Deutsch erschienene Roman der südkoreanischen Autorin Cho Nam-Joo. Der Roman konnte mich nicht überzeugen.
Inhalt
Die Mittdreißigerin Mani lebt unverheiratet bei ihren Eltern und wurde gerade entlassen. In einem Seouler Vorort blickt sie auf ihr bisheriges Leben zurück.
Das Viertel S-dong, ein typisches Seouler ‚Mondviertel‘, kleine Häuschen auf steilen Hügeln, ‚dem Mond nahe‘, mein Zuhause.
S. 25
Viel Raum nimmt dabei ihre Kindheit ein. Geprägt von dem unerfüllten Traum, professionelle Turnerin zu werden und Südkorea bei den Olympischen Spielen zu vertreten, erinnert sich Mani an all die kleinen und großen Demütigungen, die mit der Armut ihrer Familie und der eigenen Unbeholfenheit einhergingen.
Die Beziehung zu ihren Eltern, dem schweigsamen Vater, der stets desinteressiert wirkt und der eigenwilligen, manchmal hilfsbedürftigen Mutter ist ein weiteres zentrales Thema des Romans.
Meinung
Puh. Bis zum Schluss wurde ich nicht warm mit Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah.
Eine prägende Kindheit
Die Protagonistin Mani Go (oder in der koreanischen Namensreihung Go Mani) berichtet fortwährend von Kindheitsereignissen, die sie zwar prägen, deren maßgeblicher Einfluss auf ihr Leben und Handeln als Mittdreißigerin sich aber nicht erschließen. Sie beginnt eine Turnkarriere, die wegen mangelnder Förderung und fehlenden Talents von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist.
Nach deren Ende mit zehn Jahren dümpelt ihr Leben so vor sich hin, bis sie mit Mitte 30 feststellt, dass sie immer noch das unbeholfene Mädchen von damals ist und sich auch ihre Familiendynamik seitdem nicht verändert hat. Noch immer wohnt sie zu Hause und trägt zum Familieneinkommen bei; dass sich irgendwann einmal etwas an dem seit Kindheitstagen eingeübten Dreiergespann aus Vater-Mutter-Kind ändern könnte, zieht keine Figur jemals ernsthaft in Erwägung. So meint die Mutter der 36-jährigen Mani:
„Mir ist nie der Gedanke gekommen, dass du irgendwann heiraten würdest.“
S. 103
Lebenslücken
Im Erinnern der Protagonistin klaffen riesige zeitliche Lücken. Was hat sie denn nach dem Ende ihrer Turnkarriere bis zum Berufseinstieg mit Mitte 20 erlebt? Warum fiel es ihr schwer, einen passenden und besser bezahlten Job zu finden? Hatte sie nach dem Ende ihrer Turnkarriere nie wieder einen anderen Lebenstraum?
Traumlos unglücklich
Folgt man Mani auf ihrer Erinnerungsreise, muss man davon ausgehen, dass sie seit einem Alter von neun oder zehn Jahren ohne große Ambitionen oder Träume lebt. Überraschend ist dabei immer wieder ihre an einigen Stellen gnadenlose Selbstkritik:
„Unter den Blicken der anderen Mädchen, deren Gesichter erkennen ließen, dass sie mich merkwürdig, komisch, absurd und bemitleidenswert fanden. Ich selbst fand mich auch merkwürdig, komisch, absurd und bemitleidenswert.“
S. 216/217
An anderen Stellen überrascht das völlige Ausbleiben von Ideen und Vorstellungen für das eigene Leben.
Warum war ich eigentlich nie auf den Gedanken gekommen, aus Seoul wegzugehen? Es gab in Seoul nichts, womit ich mich verbunden gefühlt hätte.
S. 243
Armut als Erklärungsansatz
Nach dem erfolgreichen südkoreanischen Spielfilm von Bong Joon-ho Parasite (2019) gelingt es auch Autorin Cho Nam-Joo, interessante Facetten der südkoreanischen Gesellschaft jenseits von Glanz und Glamour der K-Pop-Fassade zu zeigen.
Einsichtsvoll ist das Schwärmen der Protagonistin von Sitz-WCs, der Abneigung gegen die immer wiederkehrende Menü-Reihenfolge zu Hause und den Umgang großer Wohnungsbaugesellschaften mit verarmten Mietern.
„Damals hatten alle Kinder in unserem Viertel im Winter ein dunkles Gesicht, und wenn sie sich arglos am Kopf kratzten, rieselten weiße Schuppen. So war das im Winter.“
S. 57
Dass Manis Antriebslosigkeit allein mit der Armut der Familie zusammenhängt, überzeugt allerdings nicht. Denn Erfahrungen, die Mani außerhalb der Familie in Schule, Turnunterricht und Arbeitsalltag macht, tragen nicht dazu bei, dass sie ihr Leben reflektiert und sich vielleicht von den Lebenswegen und Entscheiden anderer inspirieren lässt. Go Mani erscheint als völlig unwillig, ihr Leben in die Hand zu nehmen und den bequemen und vertrauten Kokon ihrer Familie zu verlassen.
Genau das empfand ich bei der Lektüre des Romans als ermüdend. Es sind nicht die Umstände oder Schicksalsschläge, die die Protagonistin zurückhalten. Vielmehr erscheint es so, als dümple diese ohne Ziele vor sich hin und wundere sich mit Mitte 30 plötzlich über all die inzwischen vergangene Zeit.
Prägnante Einzeiler
Den ersten Roman von Cho Nam-Joo, Kim Jiyoung, geboren 1986 habe ich damals in der englischen Übersetzung gelesen, weil ich die deutsche nicht abwarten wollte. Der Roman hat mir unheimlich gut gefallen und ist mir insbesondere durch seine prägnanten Einzeiler in Erinnerung geblieben. Wie Pfeile, die direkt ins Schwarze treffen, gelingt es Cho Nam-Joo dort, die großen feministischen Themen auf einen Satz herunter zu brechen.
Auch in Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah, gibt es solche prägnanten Sätze, etwa
Ernste Gesichter, entschlossene Blicke. Niemand ist glücklich, doch auch niemand betrübt.
S. 277
Doch hier haben sie häufig einen larmoyanten oder resignierten Unterton. Die Autorin Cho Nam-Joo gesteht ihrer Protagonistin an einigen Stellen deutlich zu viel Selbstmitleid zu.
Fazit
Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah zeigt Armut in Südkorea eindrücklich aus nächster Nähe, liest sich aufgrund der großen zeitlichen Lücken im Leben der Protagonistin und der alles durchdringenden Tristesse aber zäh und bleibt merkwürdig ziellos. An den ersten Roman von Cho Nam-Joo Kim Jiyoung, geboren 1986 – der auf Koreanisch im selben Jahr erschien – kann Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah nicht heranreichen.
Cho Nam-Joo, Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah, aus dem Koreanischen von Jan Henrik Dirks, Kiepenheuer&Witsch 2024, 288 S.
Weitere Meinungen zu Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah
Buch-Haltung
Verlorene Werke
Hallo-Buch
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- Lee, Hyeonseo: Schwarze Magnolie – Wie ich aus Nordkorea entkam
- Park, Yeonmi: Meine Flucht aus Nordkorea
Mir hat der Roman richtig gut gefallen – habe deinen Artikel dennoch sehr gerne gelesen, auch wenn du nicht ganz warm geworden bist mit dem Buch. Liebe Grüße, Sabine
Hallo Sabine, danke für deinen Kommentar! Ja, ich war nach Kim Jiyoung etwas enttäuscht, da ich diesen ersten Roman der Autorin so pointiert fand und mir so viele Sätze, in denen sie den Nagel auf den Kopf trifft, angestrichen habe (die Verfilmung muss ich mir unbedingt mal anschauen). Im jetzigen Roman habe ich eine stringente Handlung vermisst, es war eher eine Geschichte mikroskopischer Bewegungen im Familienkokon. Den Handlungsstrang der Wohnungsbaufirmen fand ich anfangs zwar abstrakt interessant und habe mir danach auch Karten von Seoul angeschaut, aber so richtig catchen konnte mich das Hin und Her von Formularen zwischen Familien und korrupten Funktionsträgern irgendwie nicht. Was hat dir besonders gut an dem Roman gefallen?
Liebe Grüße
Jana