Vor guten zwei Jahren habe ich mir aus verschiedenen Empfehlungslisten meine eigene 150-Klassiker-Liste gebastelt. Mittlerweile existiert eine zweite „Schattenliste“ für die Zeit nach der ersten Liste – dem Schneeballsystem sei Dank. Auch, wenn ich in diesem zweiten Jahr der Liste wegen meiner Vorbereitung auf das Staatsexamen nicht allzu viel lesen konnte, war doch der eine oder andere Klassiker dabei, den gern weiterempfehlen möchte.
Die Highlights
Mein Highlight des zweiten Jahres ist ganz klar George Orwells „1984“. Was für ein Buch! Ständig wird der Titel mit dem Hinweis auf vermeintlich Orwell‘sche Zustände durch Politik und Feuilleton bemüht; Orwell hat mit „1984“ einfach die Dystopie schlechthin geschaffen. Wer sich aber immer nur auf den Aspekt der absoluten Überwachung bezieht, wird dem Buch überhaupt nicht gerecht, denn hier geht es um so viel mehr.
Toll fand ich auch „Der Name der Rose“. Mit der düsteren Atmosphäre eines mittelalterlichen Bergklosters konnte Umberto Eco mich in seinen Bann ziehen. Außerdem kam das Buch meinem zugegebenermaßen nerdigen Interesse für Kirchengeschichte entgegen.Zwar kann man die eine oder andere Länge nicht leugnen, doch haben die regen Diskussionen innerhalb unserer gut zwei Monate dauernden Eco-Leserunde darüber hinweg geholfen. Vielleicht könnten wir auch mal zu meiner persönlichen literarischen Nemesis dem Zauberberg eine Leserunde machen…?
Die Enttäuschungen
Enttäuscht war ich von Joseph Roths „Radetzkymarsch“. Das Hörbuch habe ich nach mehreren Anläufen nach etwa der Hälfte der Spielzeit abgebrochen. Zwar wurden die Untergangsstimmung der K-und-K-Monarchie mit ihrer in Traditionen erstarrten Gesellschaft mehr als deutlich, die Atmosphäre war also da – und wurde durch den wunderbaren Wiener Schmäh der Sprecher noch verstärkt –, doch plätscherte die Erzählung einfach zu langsam vor sich hin. Eine unfreiwillige Komik entstand für mich durch die ausufernde Beschreibung von alltäglichen Verrichtungen; es war schon lustig zu hören, wie empfindlich die Figuren reagierten, wenn die Morgenpost nicht neben dem Frühstückstablett lag – völlige Erstarrung im Formalismus und immer liegt der nahende erste Weltkrieg in der Luft.
Meine vage Hoffnung auf eine schaurige Gruselgeschichte wurde bei „Der Sandmann“ von E. T. A. Hoffmann zumindest in der Hörbuchversion leider enttäuscht. Das lag daran,dass ich das Hörbuch am helllichten Tage in der Straßenbahn gehört habe und beiden sehr leise gesprochenen Gruselstellen nicht jedes Wort verstehen konnte.Dadurch sind mir einige Zusammenhänge in der Geschichte nicht klar geworden und auch der musikalisch untermalte Grusel kam nicht richtig rüber. Das ständige Anpassen der Lautstärke hat mich dann so gestört, dass ich seit einigen Monaten kein Hörbuch mehr gehört habe. Die Atmosphäre beim Sandmann ging bei der Hörbuchversion für mich verloren und ich werde der Geschichte in einem ruhigen Moment noch mal eine Chance geben. Dann aber auf Papier.
Durchweg gelungen fand ich die restlichen Klassiker in diesem Jahr:
Romantisch: Auch romantisch, aber weniger schwarz-romantisch als der Sandmann, war Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“, das mir mit seinem Loblieb auf die Liebe unter widrigen Bedingungen einen schönen Abend beschert hat. Das Büchlein ließ sich ohne Anstrengung in wenigen Stunden weg lesen und die blumige Sprache zog mich alte Romantikerin schnell in ihren Bann.
Frivol: Gustave Flauberts „Madame Bovary“ fing gemächlich an, überzeugte mich dann aber schnell mit seinem Witz und seiner lebenslustigen Protagonistin. Unvergessen ist die Schilderung einer ganz und gar unziemlichen Kutschfahrt.
Unbekümmert: Eine lebenslustige Frauenfigur fand ich auch bei Irmgard Keun „Das kunstseidene Mädchen“. Das Werk spielt in der späten Weimarer Republik, die Goldenen Zwanziger sind gerade vorbei und die Protagonistin lebt trotz aller Widrigkeiten und historischen Umbrüche ihre persönliche Version von Sex an the City.
Unerwartet: Ein Hörbuch, das mir noch vor dem „Sandmann“ unterkam, war Stefan Zweigs „Schachnovelle“. Bis auf den bekannten Titel hatte ich keinerlei Anhaltspunkte, um was es in der Novelle ging und war überrascht,dass das Thema „psychische Folter im Nationalsozialismus“ so großen Raum einnahm. Ein tolles Werk.
Zwiespältig: „Alice im Wunderland“ war so ein Buch,das ich bis dato nie gelesen hatte, aber zu kennen glaubte. Grinsekatze und verrückter Hutmacher waren mir ein Begriff, wie genau sich die Geschichte aber entwickelte, wusste ich nicht. Daher war ich erstaunt, eine vermeintliche Kindergeschichte so düster, ja bedrückend zu finden. Die Recherchen zur sehr umstrittenen Entstehungsgeschichte taten ihr Übriges dazu, dass ich das Buch mit gemischten Gefühlen in Erinnerung behalten habe.
Speziell: Schließlich las ich noch die Tolkiens Anhänge zum Herrn der Ringe, die Ring-historisch noch einmal einiges ins rechte Licht rückten und mich vertrauter mit der Geschichte und den Herrschergeschlechtern Mittelerdes machten. Die Anhänge waren – ganz Tolkien der Wissenschaftler – überraschend anstrengend zu lesen und sind mit ihrer Vielzahl an Detailinformationen wohl nur etwas für Fans des Tolkien-Universums.
Der Ausblick
Insgesamt waren es in diesem Jahr eher die Novellen und dünnen Bände, die ihren Weg von der Leseliste auf die Couch fanden; die Monumentalwerke hab ich mir für Jahr Drei aufgehoben. Fingers crossed.
Was waren eure Klassiker-Tops und Flops in letzter Zeit?
ich bin derzeit noch im tomas espedal-fieber. 🙂 nach zwei romanen von ihm (wider die natur und wider die kunst) habe ich angefangen mit bergeners, einer sammlung von gedichten, geschichten, notizen und anekdoten von ihm. ich komme aus dem staunen und schwärmen nicht mehr heraus. kennst du seine literatur? falls nicht – lesen! hier ein kleiner begeisterungsausbruch meinerseits hinsichtlich „bergeners“.
https://stadtzottel.wordpress.com/2018/11/17/regenseufzer-sinnlich/
Deine Begeisterung liest man wirklich aus der Besprechung heraus. Der Autor sagte mir bisher nichts; in Norwegen habe ich noch gar nicht herum gelesen. Behalte ihn für eine Norwegen-Expedition im Hinterkopf!
freut mich, dass es lesbar ist. 🙂 ich kann ihn dir wirklich sehr empfehlen. viel freude und einen schönen abend wünsche ich dir.
Hallo Jana,
über einige Titel auf Deiner Liste haben wir uns ja schon ausgetauscht, und ich werde bei der nächsten Leserunde gerne wieder dabei sein. Im Alleingang schaut es für mich damit nämlich leider nicht so gut aus. Seit der Schulzeit sind außer den modernen Klassikern (Marquez, Allende, Zafon, etc.) leider nicht allzu viele dazugekommen. Gerade habe ich mir eine Hörbuchversion von Krieg und Frieden besorgt – vielleicht geht es so.
Liebe Grüße
Niamh
Hallo Niamh,
wie schön, dass du nach Eco noch einmal Lust hast. Ich warte noch auf das Erscheinen von Idas Auswahl bei Ida’s bookshelf, dann können wir uns bestimmt gut auf ein Werk einigen. Drüben im Klassikerforum fällt eine Einigung immer ziemlich schwer; da wurde schon fast alles gelesen.
Die Hörbuch-Version muss ja ewig lang sein! Ich habe letztens einen Beitrag zur zweibändigen Ausgabe aus dem Hanser-Verlag gelesen und habe schon Respekt vor der gedruckten Version von Krieg und Frieden. Die BBC-Verfilmung hat mir damals allerdings sehr gut gefallen und ich möchte mich auch unbedingt noch an Tolstoi wagen. Viel Spaß beim Hören!
Viele Grüße
Jana
Hallo Jana,
danke! Das Hörbuch (gelesen von Ulrich Noethen) hat tatsächlich 66 h 8 min und die BBC-Verfilmung hat mir auch sehr gut gefallen. Ich bin für vieles offen, vor allem auch deshalb, weil ich viele Klassiker bisher ausgelassen habe. Bin übrigens gerade dabei 15 Bananenkisten mit Büchern aus einer Verlassenschaft einer sinnvollen Weiterverwendung zuzuführen – da ist vermutlich auch noch das eine oder andere dabei …
Liebe Grüße
Niamh
Hallo Niamh,
ich hoffe, du hast noch viele tolle Bücher in den Kisten entdeckt? Bei so einer großen Menge ist bestimmt der eine oder andere Schatz dabei.
Liebe Grüße
Jana
Hallo Jana,
ja, da war tatsächlich so mancher Schatz dabei. Und jetzt steh ich vor der Frage, was ich behalten kann, ohne mein Wohnzimmer endgültig in ein Bücherdepot zu verwandeln. Vorläufig stehen mal 2 Bananenkisten mit Titeln da, von denen ich mich nur ungern wieder trennen würde.
Schönen Sonntag und liebe Grüße
Niamh
Ich musste den Radetzky-Marsch in der Schule lesen und hab ihn gehasst. Hatte schon überlegt, ob ich ihm noch mal eine Chance geben soll, aber ich befürchte, ich würde ihn auch als Erwachsene tödlich langweilig finden…
Ich hab mich gefreut, dass ich nicht ganz allein damit bin. Die Atmosphäre war schon dicht, aber für meinen Geschmack hätte mehr passieren können. Ob ich es noch mal versuche, weiß ich nicht. Will ich nicht ausschließen, aber in der nächsten Zeit gebe ich anderen Klassikern den Vorzug. 😉
Ich auch 😉
Liebe Jana,
ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, soviel möchte ich kommentieren 😀 Erstmal finde ich dein ambitioniertes Projekt großartig. Mehr Klassiker zu lesen, habe ich mir auch mal vorgenommen und bin inzwischen ganz gut dabei, aber irgendwie poppen halt auch immer mehr auf, die ich lesen will. „1984“ hat mich ebenfalls umgehauen. „Der Sandmann“ habe ich auch gehört (bei Spotify, Reclam Hörbuch) und das vorrangig beim Kochen und sauber machen … haha, meine übliche Hörbuch-Routine. Und obwohl ich es nicht besonders schaurig fand oder sagen wir mal selten schaurig fand, hat es mir sehr gut gefallen wegen einer gewissen Auflösung um eine gewisse Dame gegen Ende, die für mich mehr in Richtung Science-Fiction mündete. Genial wie sich die Genres mischen. Vielleicht gibts du der Geschichte wirklich nochmal eine Chance?
Und dass du mit dem Zauberberg kämpfen musstest finde ich ja spannend … ich hatte da auch so einen Kampf damit auszustehen. 🙂 Ich muss gleich mal nachlesen wie deiner ausging, meinen kann man hier nachlesen: https://miss-booleana.de/2017/06/19/ausgelesen-thomas-mann-der-zauberberg-oder-wie-ich-von-einem-buch-antworten-verlangte/
Liebe Stefanie,
danke für deinen Kommentar! Auf deinen Rat hin habe ich vor ein paar Wochen den Spotify-Reclam-Kanal angeschaut, aber ich nutze die App eher sporadisch und habe mich deshalb bislang gegen die Premium-Version entschieden. In der kostenlosen Version sind die einzelnen Kapitel nicht sortiert; bei Musik ist das ja egal, aber bei Hörbüchern macht einen das fertig. Ich hole mir die Hörbücher derzeit über die Onleihe des Berliner Bibliotheksverbundes, das klappt super. Der Sandmann ist demnächst noch einmal dran. Beim Putzen oder Aufräumen habe ich es bislang noch nicht versucht, ich lenke mich immer selbst zu sehr dabei ab :-D.
Auf deinen Zauberberg-Bericht bin ich gespannt! Das Buch ist mittlerweile schon in die zweite Reihe gewandert, aber nach einem Monat intensivem SuB-Abbau ist wieder Platz entstanden. Ich hole es lieber wieder schnell in Sichtweite.
Ich habe auch gerade ,,The Handmaid’s Tale“ beendet und Bulgakows ,,Die weiße Garde“ angefangen – beide stehen nicht auf der Klassikerliste (sondern auf der mittlerweile existierenden und bislang unveröffentlichten Schattenliste), aber es gab so viele Empfehlungen zu Atwood und bei dir auch zu Bulgakow, dass ich mit den beiden nicht warten wollte. Mein #18für2018-Ziel erreiche ich dieses Jahr wohl aber nicht mehr, da habe ich mir definitiv zu viel Charles Dickens auf einmal vorgenommen.
Wie sieht’s mit der Leipziger Buchmesse bei dir aus?
Viele Grüße,
Jana